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Der Trend Ecotourism auf dem Prüfstand | Qiio Magazin

Die aktuellen Reisetrends zeigen: Vom Wellnessurlaub bis hin zum Survival-Trip ist alles möglich. Doch wie viel Mensch verträgt unsere Natur eigentlich?

Überfüllte Städte, Abgase und sterbende Stadtbäume - Viele Menschen sehnen sich nach Aufenthalten in der Natur als Ausgleich. Wer selbst schon einmal ein paar Stunden im Wald oder Park verbracht hat, kennt den Effekt. Die Grün- und Brauntöne der Pflanzen sind eine echte Abwechslung zum allgegenwärtigen Beton und Asphalt. Der Blick in die Ferne entlastet müde Augen, die stundenlang auf den Bildschirm starren müssen. Und auch, wenn man diese Wohltat nicht sofort und bewusst wahrnimmt, untermauert die Forschung diese Wirkung schon seit Jahren: So sollen Studien zufolge bereits zwei Wochenstunden in der Natur ausreichen, um unser Gesundheitsgefühl zu verbessern. Das Stichwort lautet hier Ecopsychology, also der Forschungsbereich, der untersucht, wie das psychische Wohlbefinden des Menschen in enger Korrelation zur natürlichen Umwelt steht.

Ab ins Grüne, aber bitte nachhaltig: Ökotourismus als Reisemodell

Die Travel Predictions 2023 von Booking.com zeigen, dass immer mehr Menschen den Rückzug in die Natur auch auf ihren Reisen suchen. In der vom Reiseunternehmen in Auftrag gegebenen Studie von August 2022 geben 55% aller Befragten an, dass sie in diesem Jahr einen "off-grid"-Urlaub, also fernab der Zivilisation, machen wollen. Immerhin 44% sprechen sich zudem dafür aus, auf die Annehmlichkeiten des Alltags und Luxusunterkünfte im Urlaub verzichten zu wollen. Die stärkste Gruppe machen dabei die Millennials und GenZ aus. Die Studie prophezeit weiter, dass rund 39% in diesem Jahr in die Wildnis aufbrechen wollen, um grundlegende Überlebensfähigkeiten zu erlernen. Getreu dem Motto: Vorbereitung ist die halbe Miete, denn wer weiß schon, wann die nächste Katastrophe oder gar die Apokalypse droht. Die jüngsten Ereignisse in der Menschheitsgeschichte scheinen den Wunsch nach Überlebenstraining statt klassischen Städtetrip jedenfalls zu befeuern.

Wer auf seinen Reisen mehr Natur sucht, ohne dabei auf Umweltschutz verzichten zu wollen, könnte im Ökotourismus das passende Konzept finden. Laut der International Ecotourism Society beschreibt der Begriff das nachhaltige, umweltschonende Reisen und appelliert an das Verantwortungsbewusstsein der Reisenden. Laut einer repräsentativen Umfrage von Google und Statista aus dem letzten Jahr geben immerhin 75% aller Deutschen an, dass sie nachhaltiges Reisen wichtig finden. Die Criteo Global Green Traveler Study attestiert Deutschland sogar die meisten umweltbewussten Reisenden weltweit. Kein Wunder also, dass touristische Unterkünfte wie etwa die Wellness-Spas und Retreats auf dieser Welt versuchen, immer mehr auf die Natur zu achten - etwa durch nachhaltige Bauprojekte und umweltschonende Konzepte. Das Projekt etwa will zeigen, dass Luxus und Umweltschutz miteinander vereinbar sind. So sollen "nur" ungefähr ein Viertel der bisher unberührten Inseln im Roten Meer für den geplanten Rückzugsort genutzt und bebaut werden. Noch besser wäre aber, die Inseln komplett in Ruhe zu lassen.

Allein, allein? Zum Mythos der unberührten Natur

Reise-Trends wie Treehouselife, Glamping, Vanlife und Haycations sind ein Indikator dafür, dass Mensch sich alternative Formen des Reisens sucht. Außerdem zeigen auch sie, dass der Trip in die Natur ein beliebtes must-see, must-be und must-have ist. Der indische Dichter und Schriftsteller Mihir Vatsa sieht das kritisch. In einem Beitrag auf The Frontline trifft er den Kern des Problems: "In jüngster Zeit nährt der Tourismus mit seinem Netz von Bewirtungs-, Reise- und Freizeiteinrichtungen unseren Wunsch, der Natur nahe zu sein. Er ist jedoch nicht der Grund für diesen Wunsch. Wäre es nur Tourismus, würden wir uns nicht über alle "unerwünschten" Auswirkungen lustig machen. Wir reisen als Touristen, aber insgeheim wollen wir Touristen vermeiden." Denn eigentlich suchen wir doch alle nach diesen stillen und abgeschiedenen Momenten, die der deutsche Maler Caspar David Friedrich im 19. Jahrhundert in Bildern wie Wanderer über dem Nebelmeer malte. Oder? Problematisch wird es dann, wenn alle danach suchen. Denn auf der Suche jener Sehnsucht, blenden wir viel zu oft die Wahrscheinlichkeit aus, dort auf andere Natursuchende zu stoßen.

Sollte das dann doch passieren, dann suchen wir nach den richtigen Perspektiven, um es unsichtbar zu machen, etwa indem wir die Fotos der malerischen Orte geschickt manipulieren: "Nur ich und dieser Hügel dahinter. Nur ich und dieser Fluss. Nur ich und dieser Wasserfall. Durch diese kreativen und bewussten Versuche schaffen wir den Mythos der Natur an touristischen Orten, und in diesem Mythos ist die Natur 'unberührt' und wir die einsamen Besucher." Aber wie jeder Mythos, steckt dahinter etwas anderes. Zum einen die Tatsache, dass die Natur dort, wo Wellness-Spas oder Designerlodges errichtet wurden, nicht mehr unberührt ist. Wenn die Natur (oder das, was wir darunter verstehen), letztendlich nur noch touristische Ziele sind, was macht das dann mit ihr? Vatsa urteilt: "In diesem Szenario ist die Natur ein verkaufbares Objekt."

Nachhaltigkeit braucht mehr als nur ein Konzept

Momente in der Natur können uns sehr viel geben. Seien es nun die lang vermisste Stille und Abgeschiedenheit oder die Basics des (Über-)Lebens. Was wir Menschen dabei jedoch nicht vergessen dürfen, ist recht simpel: Auch die Natur ist fragil. So wie wir im Wald oder am Meer Halt und Stärke finden können, sind Ökosysteme auf unsere Achtsamkeit angewiesen. Denn Ökotourismus kann als Gegenkonzept zum herkömmlichen Tourismus schließlich nur dann funktionieren, wenn Einigkeit darüber besteht, wie Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit konkret umgesetzt werden sollen. Eine neue Studie aus Brasilien, die den Einfluss von Ökotourismus auf die Umwelt untersucht hat, kommt zu dem Fazit, dass alle nachhaltigen Bemühungen überwacht werden müssen. Damit Ökotourismus wirklich funktionieren kann, plädieren die Forscher:innen dafür, immer die negativen Auswirkungen auf die biologische Vielfalt durch Tourist:innen gegen die Vorteile abzuwägen, die der Tourismus für die Erhaltung und Bewirtschaftung bieten kann.

Prinzipien wie eine Minimierung der physischen, sozialen, verhaltensbezogenen und psychologischen Auswirkungen oder das Angebot von positiven Erfahrungen für Besucher und Gastgeber lassen also nach wie vor einen zu beachtlichen Interpretationsspielraum offen. Und auch vor Greenwashing ist das Label "Ecotourism" noch nicht geschützt. Man kann schließlich zu Recht fragen, weshalb ein Tourismusprojekt wie "The Red Sea" überhaupt in die unberührte Natur eingreift - statt sich damit zufrieden zu geben, dass das Projekt "nur" einen Bruchteil davon für sich reklamiert. Bei all dem Ecotourism sollten wir dabei also nicht ein gesundes Maß an Eco-Awareness vergessen.

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