1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Protest ohne Worte: Tim Etchells fotografische Serie 'From Behind'

Widerstand sieht immer gleich aus. Dieser Eindruck entsteht, wenn man an die Bilder denkt, die täglich durch die Nachrichten und Medien gehen: Protesttafeln mit kurzen, klaren Botschaften sind international bekannt. Doch was passiert, wenn Bilder plötzlich gar nicht mehr den Anlass des Protests zeigen? Wie artikuliert sich Widerstand dann? Eine fotografische Spurensuche.

Der britische Künstler Tim Etchells (*1962) ist neben seinen Neon- und LED-Arbeiten, Installationen und Grafiken auch für seine performativen Arbeiten und Theaterinszenierungen bekannt. Ein verbindendes Element dieser unterschiedlichen Medien ist fast immer die Sprache. Worte und Sätze dehnt Etchells inhaltlich und narrativ so weit, dass sie als Indikator für etwas Nicht-Sichtbares in der Betrachtung der Werke dienen. Seine fotografische Serie From Behind fällt aus diesem Muster stark heraus. Denn die Fotografien thematisieren eben gerade die Abwesenheit von Sprache. Und das, obwohl sie aus der Mitte eines Protests, einer lautstarken Bekundung heraus entstanden sind.

(Gegen) -Dokumentarische Praxen 

Im Jahr 2018 gingen tausende Menschen des Vereinigten Königreichs auf die Straßen, um zu protestieren. Der Anlass dafür war ein Besuch des damaligen US-Präsidenten Donald Trump in London. Auf Presseaufnahmen der Proteste ist deutlich erkennbar, dass zahlreiche Demonstrant*innen Plakate und Schilder mit sich trugen, die ihre ablehnende Haltung gegenüber Trump bekundeten. Das Plakat als Requisite der Protestbewegung ist offensichtlich ein zentrales Kommunikationsmedium für die Berichterstattung über das Ereignis. Ohne viele erklärende Worte sprechen Bilder, in denen solche schriftlichen Botschaften sichtbar sind, eine eindeutige Sprache.

Anders als jene Aufnahmen zeigt Etchells fotografische Serie From Behind eine ganz andere Seite der Proteste: From Behind besteht aus einem Arrangement aus zwölf gerahmten Fotografien, in denen die Protestschilder der Demonstrant*innen von hinten zu sehen sind. Entstanden aus der Mitte der protestierenden Menschen heraus dokumentieren die Fotografien den Protest zwar als Ereignis. In einer bildlichen Ebene bleiben die Fotografien jedoch ohne unmittelbaren Kontext, denn - anders als die Pressefotografien - zeigen sie eben nicht, gegen oder für, wen oder was protestiert wird: Die Botschaften auf den Plakaten bleiben für uns unsichtbar. Es fehlt den einzelnen Motiven „eine spezifizierende Referenz, d. h. die Rahmung durch Namen, Zahlen, Erzählungen und andere Informationen". Stattdessen rücken die Protestschilder als wiederkehrendes, vereinheitlichendes Motiv in den Vordergrund.

Momente der Irritation

Erstmals ausgestellt wurden die Fotografien, im Zuge der Frieze Week 2018, zusammen mit der Neon-Installation For Everything, in der Londoner Galerie VITRINE. In dieser Form der Präsentation konnte zunächst jede*r den Fotografien und der Neon-Installation im öffentlichen Raum begegnen. Denn die transparente Front im unteren Drittel der Galeriearchitektur macht einen Blick von außen auf beide Werke möglich. Der umliegende Platz ist zudem frei zugänglich.

Wie in den Fotografien werden auch in For Everything einzelne Elemente nicht gezeigt. Stattdessen werden hier sprachliche Botschaften dekonstruiert und erzeugen damit in der Rezeption der beiden Werke Momente der Irritation. Wie William Clarke in seiner Besprechung beider Werke deklariert, sind sie „[a] possible warning that there is always more than meets the eye, however obvious that may be." Die entstehenden Lücken in Worten und Sätzen werden zu Leerstellen, die in der Betrachtung stören und eben dadurch ein aktives Handeln in Gang setzen sollen. Leerstellen, die auch in From Behind in Form der schriftlosen Rückseiten der Schilder und Plakate zu finden sind, vermögen es, die Rezipient*innen zu einer Produktion eigener, innerer Bilder als Lückenfüller anzuregen. Wie Aleida Assmann betont, bestehen die Füllungen solcher Leerstellen dabei immer aus Bildern, „die wir mit uns herumtragen". In den Moment der Betrachtung fließen dadurch individuelle Erfahrungen, die „einen Assoziations- und Resonanzraum [schaffen], in dem gerade das zu Gegenstand der Wahrnehmung und des Nachdenkens wird, was gar nicht ausgestellt ist." In From Behind ist das, „was gar nicht ausgestellt ist", die nicht sichtbare Vorderseite der Schilder, von der man annimmt, dass sie eigentlich etwas zeigt. Das Nicht-Sehen dieser angenommenen Botschaften zwingt uns in der Betrachtung der Bilder dazu, die Fotografien in einen eigenen Rahmen einzubetten - sie zu framen - und die Erzählung zu und von ihnen selbst zu schreiben.

Protestbild und Bildprotest

Der durch Protestschilder verbalisierte Ausdruck von Missmut, Unzufriedenheit, Forderungen und Ansichten wird uns in From Behind verwehrt. Dadurch fehlt uns der erzählstiftende Rahmen, der für die Einordnung der Fotografien in eine größere Geschichte nötig ist. Gehen wir von Rebecca Schneiders These aus, dass Fotografien erst „in der Zukunft [stattfinden], in der sie gesehen werden" - und „[d]er Platz des Bildes also offensichtlich live ist" - so besteht in der Rezeption der in den Fotografien angelegten Leerstellen das Potential, den dokumentierten Protest durch die Schaffung eines sekundären Rahmens fortzuschreiben.

Das festgehaltene Ereignis lässt sich in seiner Vollständigkeit auf Grundlage der Fotografien zwar nicht wiedererkennen. Die festgehaltene Situation lässt sich durch die „'Aura des Imaginären'" nichtsdestotrotz als eine Artikulation von Widerstand konstruieren. Denn der suchende Blick, dem sich die Botschaften auf der Vorderseite der Schilder entziehen, findet sich schnell in der ursprünglichen Aufnahmesituation wieder: In der Mitte der protestierenden Menschen, das Kameraauge nach vorne und über alle Köpfe gerichtet. Da diese Form der Einschreibung in das Bild universal möglich ist, erlaubt es die Fotografien als einen verdichteten, kollektiv-wiedererkennbaren Ausdruck von Protest zu bezeichnen.

Das Nicht-Zeigen der Vorderseiten der Plakate und Schilder verweist zusätzlich auf eine zweite Ebene von Widerstand, der sich wiederum gegen uns Betrachter*innen selbst richtet. Denn die Ambivalenz des Nicht-Sehen-Könnens was auf den Vorderseiten der Plakate an Botschaften geschrieben steht, wird sich niemals auflösen. Stattdessen tritt ein kontinuierlicher Moment des Nicht-Wissen-Könnens ein, den es auszuhalten gilt. Das Potential der Ein- und Überschreibung der Leerstellen durch eigene sozial und kulturell geprägte Erfahrungen und Erinnerungen ist zwar möglich, aber das Wissen darum, dass diese Imaginationen niemals mit einer Realität abgeglichen werden können, bleibt durch das Nicht-Sichtbare im Raum. Somit werden die materielle Spur des Protests (die Fotografie als Medium) und seine symbolische Widerstandskraft (die Fotografie als Bild) selbst zu einem Protest - einem wortwörtlichen Bild protest gegen uns Rezipient*innen.

The images used were published with kind permission of the artist and VITRINE Gallery, London. We would like to thank them for their friendly cooperation.

Zum Original