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Reportage

Für Juliette

Beim Fechten geht es nicht mehr um Leben und Tod. Beim Probetraining starb trotzdem ein Vögelchen. Ein echter Musketier wird wohl nicht mehr aus mir

Ich war einmal ein Musketier, so richtig mit Mantel und Degen, wie dieser kleine Comic-Hund mit den langen Schlappohren, der Held meiner Kindheit.

Ich war vielleicht fünf, und aus meinem Gitterbett konnte ich schon bald mühelos eine Holzstange lösen. Über das eine Ende schob ich einen zufällig passenden Plastikring, das andere hätte ich gern (durfte aber nicht) mit einem Messer angespitzt - und so sah sie dann also aus: meine Stichwaffe. Ich hängte mir noch flugs ein mantelähnliches Badetuch um die Schultern, stellte mich kampfeslustig vor den Fernseher und schaute die japanische Zeichentrickserie "D'Artagnan und die drei Musketiere". Anfang der 80er-Jahre kam sie auch nach Deutschland.

Im Vorspann singt ein Chor: "Früher, es ist lange her, als noch scharfe Degen blinkten, und dem Mann von Ruhm und Ehr' schöne Damen winkten." In einer Folge, das weiß ich noch, träumt der kleine Schlappohr-D'Artagnan von der schönen Juliette. Er wirft vor ihr einen Apfel in die Luft, schält ihn mit seiner Klinge und schneidet ihn in hauchzarte Scheiben, die in Form eines Herzens zu Boden schweben. Zweite Strophe: "Damals galt noch der als Mann, der zum Kampf sich stellte, und wer ein Duell gewann, war ein großer Held."

Mehr als 30 Jahre später stehe ich einem maskierten Mann gegenüber, in der rechten Hand hält er einen Degen. Er tänzelt, ich tapse, er ist ein Fechter, ich allenfalls ein Fuchtler. Meine Heldentum besteht darin, mich nicht lächerlich zu machen, zumal in dieser Schutzkleidung, in der ich mir wie ein Imker vorkomme, dem man zufällig einen Degen in die Hand gedrückt hat.

Seit meinen Kindheitstagen war ich kein Musketier mehr. Dieses Probetraining beim OSC Berlin in Schöneberg ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Und die außergewöhnlichste Erfahrung, die ich als Hobbysportler machen durfte.

Im Fechtcenter heißen die Männer nicht Athos, Porthos und Aramis, sie stellen sich als Dirk, Gerd und Udo vor. Auf dem Programm stehen: "Einweisung und Erklärung der Besonderheiten des Fechtens. Dann Erlernen der Grundtechniken und zum Ende", schrieb Dirk in der Verabredungsmail, "ein kleines Duell. Da haben wir reichlich zu tun."

Erst Stoßkissen, dann Gegner

Es dauert etwa ein Trainingsjahr, ehe Anfänger frei fechten können. Die ersten zwei, drei Monate verbringt man mit eher stumpfen Wiederholungsübungen, immer eine Turnhallenlinie entlang: Grundstellung, runter in die Hocke, vor und zurück, vor und zurück, später Ausfallschritt, Angriffssprung. Da entscheidet sich, ob jemand überhaupt den Ehrgeiz und die nötige Bereitschaft hat, eine physisch wie psychisch anspruchsvolle Sportart in deprimierend kleinen Entwicklungsstufen zu erlernen.

Bevor ich eine Fechtwaffe in die Hand bekomme, um mich erstmals einem echten Gegner zu stellen, muss ich meine Technik an einem Stoßkissen erproben. Merkregel: Erst Arm durchstrecken, dann Oberkörper nachziehen. Dirk sagt: "Man darf keine Stoßangst haben." Man müsse treffen wollen. Sportfechten sei nun mal eine Kampfsportart. Aber: "Es geht nicht darum, den Gegner zu durchbohren, sondern mit der Kraft, die gerade ausreicht, um einen Punkt zu erzielen." Dass mein versprochenes Duell nach nur drei Trainingsstunden ausgetragen wird, hat natürlich weniger mit Talent zu tun.

Ich bekomme einen Handschuh, dazu Jacke und Hose aus Dyneema, einem Stoff, der auch in kugelsicheren Westen verarbeitet wird. Das beruhigt mich ein wenig, nachdem ich eben noch erfahren habe, warum man beim Fechten traditionell Weiß trägt; so konnte man früher die Treffer besser sehen, die Blutflecken.

Die Maske ist schwerer, als ich dachte, und es gelingt mir auch am Ende des Abends nicht, sie mit nur zwei Fingern aufzusetzen oder halb geöffnet auf dem Kopf zu tragen, so wie Dirk, Gerd und Udo. Oder Anja Fichtel damals: 1988, Florettfinale bei den Sommerspielen in Seoul, als sie Einzelgold für Deutschland gewann und ich erstmals die Musketiere der Neuzeit sah. Ich vermisse kurz mein altes Gitterbett.

Maskiert, bewaffnet und verkabelt stehe ich jetzt da. Meine "verkürzten Fußballermuskel" (Dirk) zittern. Meine Finger verkrampfen sich zum Pistolengriff. Dabei soll doch der Degen wie ein Vögelchen in der Hand liegen. Festhalten, wurde mir gesagt, aber nicht zerdrücken. Doch es fühlt sich an, als würde ich dem Vögelchen das Genick brechen und es gleichzeitig erschießen.

Fechten war mal eine Frage von Leben und Tod. Und eine Kunst, die in den langen und schmalen Gängen einer Ritterburg praktiziert wurde. Daher die Planche, die Bahn, auf der sich Fechter bewegen. Erst im 15. und 16. Jahrhundert, als die aus sicherer Distanz abfeuernden Waffen den Bedarf an eher nahtodaffinen Schwertkämpfern senkten, legten die Ritter ihre schweren Rüstungen ab und begannen, ihre Technik zu verfeinern. Das waren die Anfänge des heutigen Sportfechtens, das sich als Zeitvertrieb etablierte; für Männer, die das blutige Duell nicht missen wollten oder von Heldentaten träumten. Am 6. Februar 1777 notierte Johann Wolfgang von Goethe in seinem Tagebuch: "Morgens gefochten, dann zu Frau von Stein und zu Herzogin Anna Amalia zu Tisch."

Vor, vor, vor - Treffer

Ein Degentreffer fühlt sich an wie ein mittelharter Stich mit einem Kugelschreiber. Zweimal punktet Dirk an meiner Schulter, und weil er ein gütiger Lehrmeister ist, sieht er danach von weiteren Aktionen ab, überlässt mir das alleinige Angriffsrecht, will sehen, was ich gelernt habe.

Ich denke an Goethe und seine Motivation, die Fechtkunst erlernt zu haben; um sich nämlich, wie er an anderer Stelle schrieb, "gelegentlich unserer Haut zu wehren", in bedrohlichen Situationen, "in welchen die Gesetze schweigen und dem einzelnen nicht zu Hilfe kommen". Vielleicht hatte seine Fechterei auch mehr mit Frau von Stein und Herzogin Anna Amalia zu tun, mit denen der gute Goethe nicht nur zu Tisch, sondern gelegentlich auch zu Bett verabredet war.

Ich fühle mich nicht bedroht, niemand muss mir hier helfen. Ich will nur die Stoßangst am lebenden Objekt besiegen. Ja, sage ich mir, jetzt, ich muss Dirk treffen! Muss irgendwie an ihn rankommen! Aber bloß nicht noch ein Vögelchen töten. Erst mal vor, wieder zurück, langsam anfangen, dann beschleunigen, habe ich gelernt. Auch mal Rhythmuswechsel wagen, immer die Mensur, die Entfernung halten, auf die Hand des Gegners achten, die Bewegung fühlen und alles, hatte Dirk gesagt, ins Unterbewusstsein schieben.

Also los, einen Schritt zurück, dann einen vor und noch einen und noch einen und jetzt Arm durchstrecken und dann Ausfallschritt - und nichts. Kein Treffer.

Meine verkürzten Fußballermuskeln brennen. Die Fechtjacke lässt keine Kugeln durch, aber auch keine Luft. Ich schwitze, koche und meine, Spott hinter Dirks Maske zu erkennen. Was alleine schon deswegen nicht möglich ist, weil die Dinger blickdicht sind. Und dann denke ich gar nichts mehr.

Wir alle fechten irgendwann, irgendwie. Liefern uns Wortgefechte, machen rhetorische Finten, parieren Argumente, hauen uns Nächte um die Ohren oder etwas direkt vor die Stirn, schlagen Angebote aus, gern mit dem feinen Florett, nur manchmal muss es der Säbel sein.

Ich picke das letzte Kraftkorn auf, gehe noch mal tief in die Hocke, vor, vor, vor, ich strecke mich, springe - treffe Dirk auf Brusthöhe. Zum Beweis geht an der Hallenwand die rote Lampe an. Wir ziehen die Masken aus. Dirk grinst. Ich bedanke mich.

Als ich später die Halle verlasse, schreibt sie: "Hey, D'Artagnan, schon auf dem Rückweg?" Ja, Juliette, denke ich. Und: Die Sache mit dem Apfel versuchst du lieber nicht.

Erschienen am 9. Februar 2019