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Reportage

Schanze des Lebens

Skispringen ist manchmal nicht mehr als Skihüpfen. Man muss aber erst mal runterkommen. Unser Autor war auf der Jagd nach seiner persönlichen Bestweite. 

Das ist sie also, meine erste Schanze, wahrscheinlich auch schon wieder die letzte. Ich muss sie unbedingt nutzen. Ich! Muss! Jetzt! Springen! Deswegen bin ich doch hier. Wollte immer schon mal hier oben gewesen sein. Der Junge, der ich einmal war, wäre enttäuscht, wenn der Mann, der aus ihm geworden ist, diese Schanze auslassen würde.

Und so sitze ich nun auf diesem Balken. Die Gedanken rasen zwischen den Zeiten, der Helmverschluss drückt, der Anzug zwickt, die Füße haben kaum Spiel in den Schuhen, an denen zwei Meter lange Sprungskier hängen, mit ihrem Gewicht an mir zerren, mich in die Tiefe des Aufsprunghangs ziehen wollen. Ich durchlebe die ersten Schattierungen von Angst, bin bedingt abfahrtbereit. Bin nicht Matti Nykänen, kein Jens Weißflog oder Noriaki Kasai, oder wie sie alle hießen damals.

Sie segelten wie Adler den Berg entlang, ich ließ mich wie ein Lemming von der Couch fallen. Sie landeten im Tal, ich vor dem Fernseher; die Arme zur Seite gestreckt, die Beine im Ausfallschritt, ein perfekter Telemark. Und noch während die Wertungsrichter in Innsbruck oder Zakopane über den Haltungsnoten grübelten, gab ich mir selbst die Zwanzigkommanull, kommentierte meinen Schanzenrekord, fantasierte ein Mikrofon herbei, sprach routinierte Siegerworte hinein. Im ewigen Wohnzimmermedaillenspiegel liege ich wohl immer noch ganz vorn.

Drei Jahrzehnte später bin ich auf der nördlichsten Skisprunganlage Deutschlands, sitze auf dem Balken in Bad Freienwalde und führe Selbstgespräche: Und jetzt komm schon!

Durch die Anlaufspur rinnt Wasser nach unten, tropft vom Schanzentisch auf grüne Kunststofffasern, die im Auslauf und mangels Schnee auf einer Wiese ausfransen.

Drück dich ab, geh in die Abfahrtshocke! Leg die Arme seitlich an und streck sie nach hinten, blick nach vorne zum Schanzentisch - kennst du doch alles, hast es Hunderte Male gesehen: Olympia, Weltcup, Weltmeisterschaften, das Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen, erst verträumt, später auch mal trinkmuskelverkatert.

Dann nur noch aufrichten, abspringen und abwarten, ob der Junge in dir sich zufrieden gibt oder weitere Mutproben einfordert. Wollte er nicht mal Bungeespringen?

Wie Superman durch die Lüfte

Das weitläufige Gelände des Wintersportvereins 1923 Bad Freienwalde liegt sechzig Kilometer nordöstlich von Berlin, direkt an der B158, wie die Dalton-Brüder reihen sich die vier Schanzen aneinander. Die größte - Turmhöhe 38 Meter, Schanzenrekord 72 Meter - ist nach dem früheren Skispringer Helmut Recknagel benannt, der 1960 Olympiagold für die DDR gewann und dreimal die Vierschanzentournee.

Recknagels Autobiografie heißt "Eine Frage der Haltung", was einerseits daran liegt, dass er trotz verlockender Angebote nicht in den Westen gegangen ist. Andererseits hielt es ihn früher elegant wie Superman in der Luft, Recknagel sprang und flog mit den Händen voraus. Nur eben mit Keilhose und Pullover. In einem Interview beschwerte sich Recknagel einmal über die freudlosen Gesichter der nachfolgenden Skispringergenerationen: "Wir waren doch damals die glücklichsten Menschen auf der Welt, wenn wir von der Schanze hüpfen durften."

Hüpfen ist ein hübscher Euphemismus für springen, der kleinste Dalton sozusagen. Recknagels 1960 aufgestellter Schanzenhüpfrekord in Planica endete immerhin bei 127,5 Metern und hielt sechs Jahre. Von dieser Weite bin ich sehr weit entfernt. Und es ist gar nicht so einfach, ein schwaches Verb zu finden, das noch weniger ausdrückt als hüpfen. Hoppeln vielleicht? Oder hopsen? Einen Halbsatz machen, kann man das? Der K-Punkt meiner Schanze liegt ja bei zehn Metern. Ein zwölfjähriger Pole ist hier mal elf Meter gesprungen. Und ich? Wo werde ich wohl landen? Dazu muss ich aber erst mal beschließen zu starten.

Man wird hier in Bad Freienwalde nicht gleich auf den nächstbesten Balken gesetzt. Nach der Einkleidung führt mich mein Trainer Stefan hinter das Vereinsheim und auf eine schiefe Holzbahn mit einem idiotenhügeligen Gefälle. Ich übe die Anfahrt auf einem Rollbrett und, ähm, springe, hüstel, fliege, platsch, lande auf einer Matte. Als Lern- und Flugkurve offenbar im richtigen Verhältnis stehen, darf ich die Skier auf die Schulter nehmen und die Treppe runter zur Schanze staksen.

Unfreiwillige Schlittenfahrten

Ich wähne mich bereit, taxiere die Anlaufspur, bin erst mal erleichtert, dass der Holzbalken in der untersten Luke steckt. Und als ich schon meine Schuhe in die Bindungen schnallen will, zeigt Stefan ein paar Meter weiter nach unten. Er will zunächst meine Angaben überprüfen, sehen, ob meine skifahrerischen Fähigkeiten nach fünf Jahren Stillstand tatsächlich noch ausreichen, um mich sturzfrei den Aufsprunghang hinunterzustürzen.

Ich lege die Skier parallel zum Schanzentisch, klack, Bindung zu, alle Reißverschlüsse bis zum Anschlag. Dann packt Stefan zu, dreht mich in Position und lässt mich anfahren, in der Hocke beschleunigen, den rot markierten K-Punkt passieren, und gerade als ich mich sicher fühle, wechselt der Bodenbelag, beginnt das stumpfe Gras, verstehe ich, warum Skispringer Polsteranzüge, Helme und Handschuhe tragen.

Der erste Sturz macht mich vorsichtiger, doch schon nach dem dritten beginnt die Trotzphase, steigt mein Wutpegel, die Motivation, setzt der Lerneffekt ein, und nach sechs unfreiwilligen Körperschlittenfahrten ist dann endlich Schluss. Ich begreife, dass ich meinen Schwerpunkt noch weiter nach hinten verlagern muss, um nicht zu fallen. Stefan ist zufrieden. Er winkt mich nach oben. Und da sind wir also, der Balken, der Hang und ich. Muss alles nur noch in Dreiklang gebracht werden.

So, genug gequatscht, los jetzt, ich fahre an, ich fahre wirklich an, tiefe Hocke, ein, zwei, drei Sekunden halten, ran an die Schanzentischkante und hoch - und ganz schnell wieder runter. Und ganz schnell wieder rauf. Noch mal. Will mehr. Bindung auf, Skier schultern, den Hügel hoch. Immer wieder. Atmen nicht vergessen. Nach fünf Sprüngen weiß ich, warum Stefan mir davon abgeraten hat, lange Unterhosen anziehen.

Für die Sportgeschichtsschreibung fehlt natürlich noch meine beste Weite: von Stefan gutmütig geschätzte sechs Meter. Sechseinhalb vielleicht. Gefühlt jedenfalls ein neuer Schanzenrekord. So Junge, und jetzt zum Bungeejumping.

Erschienen am 25. Januar 2020