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Reportage

Völker, verständigt euch!

Fünf Wochen Russland. Fünf Wochen in Stadien und Städten, allein unterwegs zu Fuß und mit den Massen in der Metro. Fünf Wochen voller Begegnungen mit Fußballtouristen, die vorher auch nicht wussten, was sie erwartet. Die Sorgen hatten und Vorurteile. Genauso wie die Russen. Am Ende steht die Gewissheit, dass man nicht alles glauben sollte.

Von Paul Linke

Weil es das eine nicht ohne das andere geben kann, haben Wlawolter und ich am Ende Frieden geschlossen. Vielleicht hätten wir sogar brüderlich auf die deutsch-russische Freundschaft angestoßen. Doch Wlawolter und ich sind uns nie begegnet. Wir werden es auch nicht tun - oder doch?

Es war ein flüchtiger Kontakt, wie es ihn millionenfach gibt bei Twitter. Versteckt in der Anonymität der sozialen Netzwerke, irgendwo zwischen all den Witzen, Beleidigungen, dem ganzen Hass. Und obwohl ich keine Ahnung habe, wer Wlawolter ist, wo er wohnt, was er macht, ob er eher eine sie ist, war mir ein Friedensschluss wichtig. Wlawolter hat mir nämlich eine Einseitigkeit vorgeworfen, die ich in den vergangenen knapp fünf Wochen unbedingt vermeiden wollte. Er schrieb mir auf Russisch: "Von deutschen Journalisten in Russland hört man nur Putin, Wodka, Balalaika …" Zusatz auf Deutsch: "Langweilig!"

Klischees sind das eine. Sie helfen dabei, die Realität zu rastern und einfache Antworten zu finden, wo es kompliziert wird. Etwas anderes ist es, wenn man klischeehaften Vorstellungen eigene Erfahrungen und möglichst unabhängige Beobachtungen gegenüberstellt. Auch deswegen wollte ich nach Russland.

Weil wir so viel übereinander reden, ohne uns zu kennen. Weil die russische Seele nur so ein deutscher Sammelbegriff für alles zu sein scheint, das wir ja schon irgendwie mögen, manchmal lieben, aber nicht immer verstehen, dem wir auch oft misstrauen und vor dem wir uns fürchten können, als wären wir einem sibirischen Braunbären mit Überbiss begegnet.

Vor meiner WM-Reise habe ich Sergej Netschajew um Rat gebeten. Der russische Botschafter in Berlin gab mir zunächst eine Lektion in diplomatischer Ausweichkunst und Hinhaltetaktik. Dann verwies er mich an den 1873 verstorbenen Kollegen, an Fjodor Tjutschew, der als einer "der größten Dichter der letzten Dekade im sogenannten Goldenen Jahrhundert der russischen Poesie bekannt ist". Für den Botschafter sind folgende Zeilen "unsterblich", für mich waren sie immer eine willkommene Stütze, auf der ich meine Gedanken ablegen konnte, wenn sie mir zu schwer wurden:

Ganz fremd ist Russland dem Verstand,
An keine Messlatte zu schrauben,
Hier herrscht ein sonderbarer Stand,
An Russland kann man nur glauben.

"Lassen Sie sich auf alles ein, seien Sie immer offen", empfahl mir der Botschafter noch. "Am besten reden Sie mit den Menschen, um die Mentalität und die Freundlichkeit zu verstehen. Dann kriegen Sie es wahrscheinlich hin."

Um die Wahrscheinlichkeit meines Gelingens zu steigern, dachte ich mir drei Wochen später in Sotschi, muss ich auch online mit den Menschen ins Gespräch kommen. Gerade online. Deshalb bat ich Wlawolter höflich, erst mal einen Blick in meine bis dahin gesammelten Erfahrungsberichte zu werfen, bevor er mich unter tendenziell russlandfeindlich einsortiert. Und nur so nebenbei, um seinen Vorwurf zu entkräften: Genau einmal mixte ich einen Fußballtext mit Wodka, selbst getrunken habe ich aber keinen. Außerdem kam der deutsche Innenminister häufiger vor als Russlands Präsident. Und Balla-Laika hieß zwar unsere WM-Kolumne, in der ist aber, so viel ich weiß, nicht eine Saite angezupft worden.

Ich wartete also auf Wlawolter. Und ich wusste ja nicht, ob er auch so ein twitternder "Pro-Russia-Media-Sniper" war, der mich davon überzeugen wollte, dass ich den Özil-Erdogan-Termin nicht mit dem Matthäus-Putin-Besuch in präsidiale Verbindung setzen sollte.

Um die Wartezeit zu überbrücken, postete ich ein Bild von einem Lada 2107, den ich entdeckt hatte. Diese Scheinwerfer - die waren für mich immer der böseste Blick des Ostens. In Polen war so ein Lada der Mercedes unter den Fiats. Das war das Auto meiner Kindheit. Wlawolter schrieb sofort: "Oh ja Lada vergessen! Ich bin begeistert!"

Ich war etwas angepikst und antwortete mit einem Link, der meine große Lada-Liebe erklären sollte. Keine Antwort. Ich war dann schon kurz davor, Wlawolters Vorwurf umzukehren und mich nach seiner einseitigen Wahrnehmung zu erkundigen. Da schrieb er: "Mein Vater hatte einen Lada 2101, mit diesem Auto sind meine schönsten Erinnerungen, erster Kuss …" Ein paar Sekunden später: "Bruder!" Dazu zwei Finger zum V, das internationale Zeichen für Frieden. "Und ein deutscher Journalist in Russland", schrieb ich noch. Wlawolter schenkte mir ein Herzchen. Der "Pro-Russia-Media-Sniper" meldete sich nie wieder.

Einerseits war das wie ein Sieg für mich. Ich war plötzlich einer der guten - oder wenigstens einer der weniger schlechten Jungs. Und gleich eitel genug, diesen Sieg als meinen Beitrag zur Völkerverständigung zu feiern. Weil: "Frieden und Freundschaft mit Russland! Keine Sanktionen! Keine Anti-Russland-Propaganda! Es reicht!"

Diesen Tweet hat Wlawolter an sein Profil gepinnt, und bei drei Ausrufezeichen bin ich mir sicher, dass ich sie auch so setzen würde. Diese vier Sätze sind seine Antwort an das Team von @ZDFheute, die Nachrichtenredaktion hatte geschrieben: "Seehofer besucht Putin. Die Reise ist umstritten - sogar in den eigenen Reihen." Das war im Februar 2016.

Es war eine andere Welt damals. Die deutsch-russische Freundschaft in keinem sonderlich guten Zustand. Und nichts wurde danach besser. Aber noch kam niemand auf die Idee, einen 69. Geburtstag mit 69 Abschiebungen zu feiern. Noch fragte die Zeit nicht auf der Titelseite, ob man es lassen kann, Menschenleben zu retten, als könnte man in einem Pro und Contra über Menschenrechte entscheiden.

Und noch hatten die über zwei Millionen Fußballtouristen die Möglichkeit, sich genau zu überlegen, ob sie nach Russland wollen, sich in die Höhle des überbissigen Bären aus Sibirien trauen. Einige haben mir in Moskau geschildert, wie hart sie mit sich und den Einwänden aus Familien- und Freundeskreisen gerungen haben. Doch keiner bereute letztlich den Ausgang des Ringkampfs.

Andererseits sind es die vielen kleinen Niederlagen, die mich immer mehr beschäftigen am Ende meiner Reise. Die falschen Vorstellungen, das Halbwissen in Fettnapfgröße, die sportliche Fehleinschätzung der Sbornaja vor dem Turnierstart, die westliche Arroganz im Denken. Und jetzt sollte Wlawolter nicht gleich mit dem Twitterdaumen zucken, denn es geht hier doch um Putin. Natürlich um Putin. Genauso natürlich, wie viele Russen über Angela Merkel sprechen und einen dann über unsichere Nebenrouten zum Flüchtlingsthema schleusen.

Vor vier Wochen hieß es immer noch: Es ist seine Weltmeisterschaft, seine Bühne, und zur Aufführung wird dort ein postmodernes Propagandastück kommen. Auch ich habe so etwas behauptet. Im Nachhinein ist das nicht ganz falsch. Aber richtig ist vor allem, dass nicht einmal der russische Chefstratege voraussehen konnte, wie die Gästefans seine Regeln und Gesetze beugen und brechen würden. Wie sehr auch die Russen sich im Rausch des Siegens die Rechte nehmen könnten, die sie vorher nicht hatten: öffentliches Trinken, spontane Versammlungsfreiheit, Klettern auf Denkmäler, freudiger Vandalismus. Und wie durch die gesellschaftliche Kraft des kommerziellen Fußballs sich eine Parallelwelt öffnen sollte, in der nur der Augenblick zählte, dann das nächste Spiel, das nächste Tor.

Das eine führte zum anderen. Das Verbindende war auf einmal doch stärker als das Trennende. Die russischen Fans mussten sich nach dem Ausscheiden nicht von der Niederlage erholen, sondern von den vielen Partys. Stolz beinhaltet nicht zwangsläufig Nationalstolz. Fußballsiege bedeuten keine ideologische oder systemische Überlegenheit.

Putin blieb meist unsichtbar während des Turniers. Bei einem Promi-Politik-Kick am Roten Platz konnte man sehen, warum er Eishockey lieber mag. Über seinen Sprecher ließ er der Welt ausrichten, dass er zu beschäftigt sei, um nach dem Eröffnungsspiel noch ein zweites zu besuchen. Klar, im Kreml brannte ja schon immer Licht. Trotzdem muss das Quatsch gewesen sein, denke ich, und eine gewiefte Strategie, die wieder kein Kremlastrologe richtig gedeutet hatte.

Ich würde Wladimir Wladimirowitsch ja so gerne mal zu einem Brettspielabend einladen. Sechs Stunden "Risiko" um die Weltherrschaft. Von mir aus mit Wodka und Wlawolter. Dann mal schauen, wie viele Sechserpasche er in Serie würfeln kann, um Kamtschatka zu verteidigen und sich von Asien aus die ganze Welt zu nehmen. Denn das ist doch der Eindruck: Putin verliert nie. Seine Würfel haben keine Einsen. Sie müssen gezinkt sein.

Garry Kasparow findet übrigens, dass Putin eher der Pokertyp ist. Auf keinen Fall ein Schachspieler. Und einem ehemaligen Schachweltmeister muss man das glauben. Seine Begründung überzeugt: Auf dem Schachbrett herrscht Transparenz, man kann nicht bluffen - und nicht schummeln. Als Oppositionspolitiker ist Kasparow sich sicher, dass Putin genau das getan hat in den vergangenen WM-Wochen.

Auf dem Kunstrasenplatz, wo Putin und sein Fußballpräsidentenkumpel Gianni Infantino sich ungelenke Pässe zuspielten, fand in der vergangenen Woche ein Freundschaftsspiel statt. In Rot die russische Auswahlmannschaft mit zwei früheren Nationalspielern und einem aktuellen Eishockeyprofi. In Schwarz das deutsche Botschaftsteam mit dem Starstürmergast Kevin Kuranyi, dem wahren deutschen Botschafter in Russland, dem in der Nachspielzeit noch der ehrenhafte Anschlusstreffer zum 2:7 gelang.

Eine Verkettung undurchsichtiger Zufälle hatte mir den Job des Livekommentators beschert. Aus der Kommentatoren-Box konnte ich das Lenin-Mausoleum sehen. Ich dachte, das wird mir keiner glauben. Und nur so nebenbei: Diese Erfahrung sollte jeder machen dürfen, der Spott auf Steffen Simon oder Claudia Neumann kübelt.

Nach dem Spiel gab es einen Empfang im Gum, dem Kaufhaus des Ostens, einem Konsumtempel für Westgehälter. Und weil der Kuranyi-für-Jogi-Witz nicht so schlecht angekommen war beim Publikum, war auch ich eingeladen.

Ich stand zunächst etwas verloren, aber dankbar Schnittchen kauend an einer langen Tafel, als eine Frau mich ansprach. Sie kam aus Berlin, sie gehörte zu einer Reisegruppe des Staatssekretärs für Arbeit und Soziales. Begeistert erzählte sie mir von Moskau, den gastfreundlichen Menschen, den tollen Parks. Das hätte sie wirklich nicht gedacht. "Aber wissen Sie, was das Tollste war?" Wusste ich nicht. "Die Belugawale!"

Dann erklärte sie mir, warum Belugawale so schön sind und dass es in Deutschland und der gesamten Europäischen Union leider nicht erlaubt sei, sie in Aquarien zu halten. Im Moskau kam sie ihren Lieblingstieren so nah wie niemals zuvor. In der Hand hielt sie ein Schnittchen, das aussah, als wäre es mit Kaviar bestrichen.

Zwischen Russlandversteher und Putinfreund gibt es genauso feine Unterschiede wie zwischen Kremlkritiker und Russlandbasher. Das war grob das Gesprächsthema eine Tafelecke weiter, in das sich ein witziger Kommentator natürlich ohne Vorstellung einklinken konnte.

Der wehrtechnische Attaché der deutschen Botschaft in Moskau, den man dahin schickt, wo es eine "Verwendung" für ihn gibt, sagte mir, dass man in Deutschland vieles falsch verstehen würde. Putin sei eigentlich ein großer Wirtschaftspolitiker. Die Sanktionen hätten viele Abhängigkeiten vom Westen beendet. Bei der Fleischproduktion etwa. Im Südkaukasus gäbe es inzwischen größere Gewächshausanlagen als in den Niederlanden. Die Tomaten schmeckten viel besser. Auch nur so nebenbei: das immerhin kann ich bestätigen.

Die meisten Retter meiner anfänglich einsamen Tafelrunde waren sich sicher, dass man bei der Entwertung des Rubels die Erhöhung der Kaufkraft nicht unterschlagen sollte. Dass Putin die Sanktionen gegen Russland zwar als Bosheit des Westens verkaufen würde. Seine sogenannten Importsubstitutionen seien aber ein Segen für viele Menschen, die deswegen zu ihm halten. Und, so die These, die auch einige Russen vertreten, sie werden noch mehr zu ihm halten, wenn er die von der Regierung geplante Erhöhung des Rentenalters mit einem präsidialen Machtwort um ein paar Jahre zurechtstutzen, sich damit wieder zum Problemlöser machen wird.

Wieder so ein Sechserpasch für Putin.

Am Ende eines Abends, der mit einem Trinkspruch auf die deutsch-russische Freundschaft begann und mich fast dazu gebracht hätte, einen Dichter aus der letzten Dekade im sogenannten Goldenen Jahrhundert der russischen Poesie zu zitieren, musste ich leider erfahren, dass ich mich zu lange mit dem wehrtechnischen Attaché unterhalten hatte. Er stünde auf einer schwarzen Liste der NSA. Und ich damit sehr wahrscheinlich auch. Das ist das eine.

Sicherheit war ein großes Thema vor der WM, während der WM waren alle sicher. Und das andere ist deswegen diese Zahl, die mir nicht aus dem Kopf gehen will: 350 000.

Ein Kollege erzählte mir, dass den Mitarbeitern der ARD wiederum erzählt worden sein soll, dass die russische Regierung genau so viele Leute eingestellt habe, um die Überwachung auszuweiten. Ich habe niemanden gefunden, der diese Zahl bestätigen konnte, den ich hätte fragen können, wo sie überhaupt herkam. Der Kollege erwähnte dann noch so ein seltsames Klicken in der Leitung und fragte, ob ich mich aus Sorge vor Mithörern oder Mitlesern zurückhalten würde bei der Berichterstattung.

Ich hatte in den vergangenen Wochen niemals das Bedürfnis, etwas verschweigen zu müssen. Bei mir klickte es nicht. Wer noch freiwillig wie ich WhatsApp nutzt, wer unterwegs digitale Orientierungshilfe in Anspruch nimmt, sollte aber nichts ausschließen. Auch wenn er glaubt, nichts vor niemandem verbergen zu müssen.

Die vielen Taschenkontrollen im Stadion, in Bahnhöfen, auf Fanmeilen nahm ich als Notwendigkeit hin. Ich ließ im Hotel meinen Pass kopieren, sogar die leeren Seiten, und zeigte ihn manchmal mehrmals am Tag. Mit der für WM-Reporter kostenlosen Metrokarte bin ich die halbe Stadt abgefahren und wusste, dass mit jedem Piep beim Einlass ein Signal ins irgendwo ging und dort meine Fahrten gespeichert wurden.

In Paul Austers Roman "Stadt aus Glas" folgt der Krimibuchautor Daniel Quinn einem aus der Psychiatrie entlassenen Mann durch die Straßen von New York und beginnt dessen Wege aufzuzeichnen. Er stellt dann fest, dass der von ihm Verfolgte sich nach einem bestimmten Muster durch die Stadt bewegt und dass sich riesige Buchstaben aus diesem Muster ergeben.

Daran musste ich oft denken in der Metro. Und ich stellte mir dann vor, wie ich wo hinfahren müsste, um eine versteckte Botschaft zu senden. Aber welche? Vielleicht ein Zwinkersmiley nach einer kompletten Ringbahnfahrt? Oder einfach nur ein über ganz Moskau gezogenes spasibo? Danke. Für eine gute Zeit.

Yandex, Russlands größte Suchmaschine, hat vor ein paar Tagen einige, natürlich gespeicherte Suchanfragen veröffentlicht. Über ihre WM-Gäste aus Kolumbien wollten die Gastgeber am meisten erfahren. "Wie sind sie hergekommen?" Über die Nigerianer: "Woher haben sie das Geld für die Tickets?" Ein Opa aus Forchheim war für die meisten russischen Internetznutzer das Spannendste aus Deutschland.

Der Mann hat mit seinem 82 Jahre alten Traktor eine Strecke von etwa 2 500 Kilometer zurückgelegt, um nach Moskau zu kommen. Die russischen Medien berichteten ausführlich. Die Bilder schlugen sogar die Nachricht, wonach sich das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel für die Fehleinschätzung der Sbornaja entschuldigt hat.

Ein Traktor ist nun mal ein erdverbundenes Gefährt. Im ländlichen Russland gibt es viele Traktorenrennen. Und ausgerechnet ein 70-jähriger Opa aus Bayern hat also den wohl wichtigsten Beitrag zur Völkerverständigung geleistet. Das könnte sich Seehofer für seinen nächsten Geburtstag auch vornehmen.

Soll ich das Wlawolter schreiben? Vielleicht hatte er einen Opa, der wie meiner Traktor fahren konnte. Darauf könnten wir dann wirklich anstoßen und gemeinsam in alten Erinnerungen schwelgen.
Viele Russen haben einfach keine Lust mehr, denke ich. Keine Lust, sich die Dinge erklären und vorschreiben zu lassen. Sie wollen dieses in ihren Augen einseitige Stadt-Land-Fluss der Verbrechen - Sewastopol, Abchasien, Euphrat - nicht mehr mitspielen. Sie sehen die westlichen Werte als das, was sie zurzeit im Mittelmeer bedeuten. Sie haben eigene Werte erfunden, besondere Werte, sagt Putin, also: "Leben, Liebe, Freiheit, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte." Schöne Worte. Oft leere Worte. Der russische Präsident klingt manchmal auch nicht anders als westliche Politiker.

Einer Erhebung des World Value Survey zufolge können zwei Drittel aller Russen anderen Menschen nicht vertrauen. Das muss einerseits auch für russische Politiker gelten. Anderseits könnte die Weltmeisterschaft etwas am Misstrauen geändert haben. Und ich hoffe, der Botschafter in Berlin verzeiht mir, wenn ich die unsterblichen Zeilen von Fjodor Tjutschew nur hier um eine erweitere: "An Russland muss man auch mal glauben." Weil es das eine nicht ohne das andere geben kann. Und weil es gar nicht so viele Bären mit einem Überbiss gibt. Nicht mal im tiefsten Sibirien.

Erschienen am 14. Juli 2018