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Paul Gäbler

Journalist, Berlin

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Reportage

Polizei und Protestierende stehen einander in Lützerath im Schlamm gegenüber

Freitagabend, 13. Januar 2023: Vier Tage regnet es schon in Folge. Die Wiese nahe des Tagebaus Garzweiler südlich von Mönchengladbach ist zu einem Sumpf geworden. In langen Reihen stehen Zelte aneinander, um ein Lagerfeuer sitzen Menschen dicht zusammengekauert, jemand spielt „Marie" von AnnenMayKantereit auf der Ukulele, während aus der Feldküche der Geruch eines veganen Abendessens herüber wabert.

„Manchmal denk ich, die Welt ist 'n Abgrund Und wir fallen, aber nicht allen fällt das auf Und so nimmt alles - alles seinen Lauf"

Wäre es nicht so kalt, grau und nass, könnte man annehmen, man sei auf einem Festival. Doch anstatt lauter Musik und ausgelassenem Hedonismus ist die Stimmung hier eher ernst. Einige haben Sturmhauben über die angemalten Gesichter gezogen, wie eine Party fühlt sich das nicht an und wie eine Jugendfreizeitfahrt auch nicht.

Alles hier wird in Eigenregie verwaltet und organisiert, selbst die Rollstuhltauglichkeit des Camps wurde bedacht. In einem großen Gemeinschaftszelt liegen Aktivisten übermüdet im Stroh, zählen ihre blauen Flecken und versuchen, vor dem morgigen, vielleicht entscheidenden Tag ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.

Das Protestcamp in Keyenberg ist nur wenige Kilometer von Lützerath entfernt, eben jenem Dorf, über das ganz Deutschland seit Wochen diskutiert. Für die einen ist es zu einem Wallfahrtsort geworden, zum Sinnbild einer geheuchelten Klimapolitik, die viel verspricht und letzten Endes nur zu faulen Kompromissen zwischen Wirtschaftlichkeit und Ökologie fähig ist.

Für die anderen ist es ein notwendiges Übel, was geopfert werden muss, um dem Energiekonzern RWE, der die Kohle unter dem Dorf gerne abbaggern möchte, einen früheren Kohleausstieg schmackhaft zu machen. Vier weitere Dörfer wurden dafür gerettet, wie die Grünen Verhandler auf Landes- und Bundesebene immer wieder betonen. Aber reicht das aus, um die hier Anwesenden gütig zu stimmen? Oder hat die Partei ihren Kredit bei der Klimaschutzbewegung bereits verspielt?

Samstagmorgen, 8 Uhr, es regnet immer noch: Gut für die Natur, schlecht für den Aktivismus? „Heute wird Geschichte geschrieben!", sagt Tadzio Müller. Der Politikwissenschaftler und Klimaaktivist aus Berlin hatte die letzte Woche in einem der besetzten Häuser in Lützerath verbracht, in einer bunt zusammengewürfelten WG, bis er von der Polizei herausgetragen wurden. Tadzio rechnet heute mit 50.000 Teilnehmenden. „Wir setzen auf den Eventfaktor", sagt er. „Wir haben es geschafft, dass Klimaaktivismus zum Mainstream geworden ist." Die Mobilisierung habe Kreise gezogen, auch über die üblichen autonomen Zirkel hinaus. Er ist sich sicher: „Lützi bleibt."

Der Eventcharakter der Klimaschutzbewegung hat in den vergangenen Tagen teils merkwürdige Blüten getrieben. Luisa Neubauer nahm in den vergangenen Tage ebenfalls an Blockade-Aktionen Teil, nicht ohne bei der Verhaftung wie zufällig ein Buch des deutsch-amerikanischen Philosophen Hans Jonas in die Kamera zu halten. Grüne MdBs wie Emilia Fester oder Nyke Slavik, die für den Beschluss gestimmt hatten, sind als parlamentarische Beobachter anwesend und ernten für ihre Teilnahme teils heftige Kritik auf Social Media, auch aus den eigenen Reihen.

Alles nur Opportunismus? Selbstinszenierung? Oder letztendlich das zu erwartende Ergebnis grüner Realpolitik? Hier liegt eben das Problem eines Events: Für den Moment haben alle viel Spaß und schwören auf eine bessere Zukunft. Aber sobald die Party vorbei ist, wandert die Aufmerksamkeit schnell wieder anderen Dingen zu.

Samstagmittag: Das Camp ist fast leer, die meisten haben sich auf den Weg Richtung Lützerath gemacht, um zu retten, was noch zu retten ist. Das Publikum ist bunt gemischt, auffallend weiß und weiblich. Auch viele Ältere laufen mit, teilweise mit ihren Enkelinnen an der Hand. Die Sprechchöre können sie alle auswendig: „Gebt mir ein R! Gebt mir ein W! Gebt mir ein E! Was heißt das? - Scheiße!"

Während der Regen weiter in dünnen Schnüren auf den Demonstrationszug fällt, erreicht die Menge den Rand des Tagebaus Garzweiler II. Täglich werden hier über hundert Millionen Kubikmeter aus der Erde gebuddelt, bis zum Horizont sieht man nichts als ein großes Loch. In Sichtweite steht der Bagger 288, ein Monster von einer Maschine, mit 12.840 Tonnen das größte Landfahrzeug der Welt. Was früher als modern und zukunftssichernd galt, wirkt heute nur noch unwirklich und dystopisch. Die Aktivisten zücken ihre Handys und posieren für Selfies.

Ob der Abriss von Lützerath wirklich notwendig ist, um die Versorgungssicherheit von RWE noch zu gewährleisten, darüber sind sich die Gutachter weiterhin nicht einig. Casimir Lorenz vom Thinktank Aurora Energy sagte kürzlich im Podcast „Lage der Nation", es sei unsicher, RWE die zugesicherte Fördermenge ohne Lützeraths Verschwinden zuzusichern.

„CDU und SPD tragen die meiste Verantwortung"

Im Gespräch mit den Teilnehmenden zeigt sich allerdings, dass die Bereitschaft, wirtschaftliche Kompromisse mitzutragen, ziemlich dünn geworden ist. Eigentlich erwartbar, dass die Grünen die extrem hohen Erwartungen der Klimaschutzbewegung nach 16 Jahren Merkel-mäßiger-Wohlfühlpolitik nicht alle werden erfüllen können.

Wie schnell es geht, dass man in realpolitische Konformität abrutscht, davon sind Aktivistinnen wie Carla Reemtsma, Mitgründerin der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung, extrem enttäuscht: „Natürlich tragen CDU und SPD die meiste Verantwortung für die verfehlte Politik der letzten Jahre. Aber die Grünen, die im Wahlkampf so viel versprochen haben, unterstützen jetzt ebenfalls einen Kurs, der nicht mit dem Pariser Klimaabkommen vereinbar ist." Steht nun eine Spaltung der Grünen bevor? „Das kann ich nicht sagen. Vermutlich geht's bei der Linkspartei schneller. Vielleicht entsteht aber auch etwas ganz Neues."

Samstagnachmittag, nur noch wenige Hundert Meter bis Lützerath. Hinter einem Sandhügel rennen Sanitäter hektisch durch die Gegend und fordern über Funk einen Rettungshubschrauber an. Mehrere Dutzend Verletzte liegen hier mit Oberschenkelfrakturen, Bauchtraumata sowie teils schweren Kopfverletzungen, eingewickelt in goldene Plastikfolie, wobei sie immer wieder Schmerzensschreie ausstoßen.

Die Polizei verteidigt den Zaun um das abgeriegelte Dorf mit allen Mitteln und nutzt Schlagstöcke offenbar auch auf Kopfhöhe - in Polizeikreisen eigentlich ein No-Go, da so schwere Verletzungen in Kauf genommen werden. Der Polizei selbst sei nach eigenen Angaben nichts davon bekannt, dass mehrere Teilnehmer lebensgefährlich verletzt worden sein sollen. Die Veranstalter sprechen von einer hohen zweistelligen oder gar dreistelligen Zahl der Verletzten.

Polizisten schubsen Aktivisten in den Spinat

Direkt vor dem Dorf stehen sich Demonstranten und Polizisten im knöcheltiefen Schlamm gegenüber. Lützerath ist mit Doppelzaun, Polizeiwannen und zweifachen Polizeiketten gesichert. Während von der nicht weit entfernten Bühne die Stimme von Greta Thunberg über die matschigen Wiesen hallt, gelingt es der Menge, die Einsatzkräfte bis kurz vor den Zaun zu treiben. Schlamm und Feuerwerkskörper fliegen Richtung der Polizei, die antworten mit Pfefferspray, Schlagstöcken oder sie schubsen die Teilnehmer in das zertrampelte Spinatfeld.

Es ist weniger die Quantität als die Qualität der Gewalt, die hier auffällt. Auch Greta Thunberg und Luisa Neubauer werden kurz darauf mit brachialer Gewalt von der Wiese entfernt. Trotz einer Teilnehmerzahl von rund 25.000 Menschen bleibt die Festung Lützerath an diesem Tag uneinnehmbar.

Mit Einbruch der Dunkelheit hat sich das Geschehen schlagartig beruhigt. Ein Wasserwerfer spritzt noch ein wenig in der Gegend herum, dann machen sich auch die entschlossensten Aktivisten zurück auf den Weg ins Camp.

Der Berliner Aktivist Tadzio Müller sagt am Telefon: „Die Klimaschutzbewegung hat heute ihre alte Stärke gezeigt und die Parteien haben wieder Angst vor uns." So ein Zulauf, trotz schlechtem Wetter und einer juristischen Aussichtslosigkeit, das Dorf noch zu retten, sei ein Meilenstein für die Klimabewegung - auch wenn die von ihm veranschlagten 50.000 Teilnehmer verfehlt wurden. „Das heute war ein Hambi-Moment."

Ist Lützerath nur noch Symbolpolitik?

Hambi - der Protest für den Erhalt des Hambacher Forsts im Jahr 2018 - war tatsächlich ein großer Moment für die Klima-Bewegung, aber auch ein Protest, bei dem ein Mensch starb.

Wie groß der Vertrauensverlust für die Grünen ist, wird sich bei den nächsten Wahlen zeigen, wenn wieder die Suche nach dem kleineren Übel beginnt. Bei vielen Aktivisten hier vor Ort hat sich ein Gefühl breit gemacht, dass es egal sei, wer regiert, die Politik bleibe die selbe, nur mit einem etwas veränderten Marketing. Man muss diese Einschätzung nicht teilen, doch sollte jedem klar sein, wie gefährlich das ist, sollte sich diese Haltung verfestigen.

Die junge Generation der Klimaschutzaktivisten hat in den vergangenen Jahren die Erfahrung machen müssen, dass sich zu Hunderttausenden Freitags auf der Straße zu treffen von der Politik erst denunziert, dann belächelt und anschließend großväterlich umarmt wird um letztendlich in politisch halbgaren Weichenstellungen zu enden. Danach zog die Corona-Krise der Bewegung für zwei Jahre den Stecker. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine drängt sich das nächste tagespolitisch wichtigere Thema in den Vordergrund. Wer kann den Menschen also verübeln, in teils trotziger Manier auf die Erhaltung ihrer Lebensgrundlagen zu pochen?

Am Sonntag um 16 Uhr kommt die Eilmeldung auf die Mobiltelefone der ganzen Republik: Lützerath ist geräumt. Bis auf zwei Besetzer in einem Tunnel sind alle Menschen in fünf Tagen aus dem Dorf gebracht worden. Es hieß erst, dass es Wochen dauern sollte, jetzt hat es fünf Tage gebraucht.

Man mag den Kampf um Lützerath für reine Symbolik halten und vermutlich hatten die wenigsten der Aktivisten ernsthaft damit gerechnet, das Dorf noch zu erhalten. Doch zeigen die vergangenen Tage, dass hier eine gefestigte Protestkultur gewachsen ist, die sich nicht so schnell wird einschüchtern lassen. Auch in den kommenden Monaten wird es noch viel zu demonstrieren geben. Schließlich liegt in der Brandenburger Lausitz, wo der Ausstieg weiterhin erst 2036 geplant ist, noch viel mehr Kohle unter der Erde.

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Erstellt am 28.01.2023
Bearbeitet am 28.01.2023

Quelle
https://www.berliner-zeitung.de/pol...

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