Die Krise hat das Land verändert. Sie war so etwas wie eine Naturgewalt, die auf einmal da am Horizont erschien, und viel zu schnell viel zu real wurde. Sie hat sich in die Straßen geschlichen, die zum Sammelbecken gestrandeter Gestalten wurden, hat sich in die Häuser geschlichen, deren Zerfall niemanden mehr interessiert, hat sich in die Herzen geschlichen. „Ich habe das Gefühl, die Menschen sind in den letzten Jahren immer aggressiver geworden, immer gestresster", versucht eine Freundin die Veränderungen zu beschreiben, „und auf der Straße sehe ich immer mehr Verrückte. Menschen, die mit sich selbst reden, Drogenabhängige. Es gibt immer mehr, die in den Mülltonnen nach Essen suchen, nicht mehr Pfandflaschen, wie früher, sondern Essen." Weil der griechische Staat zu viele Menschen beschäftigt haben soll, beschließt die Troika Kürzungen im öffentlichen Sektor. Weil es einzig um Zahlen geht und nicht um Sinn, werden 50 000 LehrerInnen in den Ruhenstand geschickt. In den nächsten Jahren wird es keine Neueinstellungen mehr geben, erzählen uns unsere griechischen Freunde. Und wer unterrichtet jetzt die Kinder? Und was passiert mit denen, die ihr Studium beenden?
Stella, die Schwester unseres Gastgebers hätte Physiklehrerin werden sollen, werden wollen. Und obwohl es einen Mangen an LehrerInnen gibt, bekommt sie keinen Job. Statt dessen singt sie, singt, weil sie Zeit dafür hat, singt, um zu überleben. Sie singt in Kneipen und Restaurants, singt in ihrem Zimmer, singt mit ihren Freunden. Ihr Freund sagt: „Es gibt immer mehr junge Leute, die sich künstlerisch ausleben. Weil es keine Hoffnungen auf Arbeit gibt, probieren sie sich an dem aus, das ihnen Freude bringt." Lida zum Beispiel möchte Schauspielerin werden. Ihr Architekturstudium will sie aber noch beenden, nur für den Fall...
Die Musik dieser Generation ist Rebetiko. Es ist eine traurige Musik aus den 20ern. Damals wurde die griechische Minderheit aus der Türkei vertrieben und fand sich in den Häfen Athens wieder. Es waren Ausgestoßene, Heimatlose. Menschen, die sich in den zwielichten Kneipen herumtrieben, die ihr Geld mit dunklen Geschäften machten. Begleitet von der traditionellen griechischen Gitarre sangen sie von Liebe, vom Tod, vom Marijuana-Rausch, vom Leben hinter den Kulissen. Während Stella singt, ihre Stimme das Knattern vorbeifahrender Mopeds übertönen lässt, klatschen die Zuhörenden, zwei holen ihre Instrumente heraus und setzen sich dazu. Wir sind in Ixachia, in diesem Viertel werden Revolutionen losgetreten. Die Wut über das System ist an jeder Häuserwand zu sehen, immer wieder entlädt sie sich in Demonstrationen, Gewalt gegen Banken, zu teure Autos, Polizei. Ixachia war schon immer das Viertel der Anarchisten, doch seit die Krise den Staat zum Gewalttäter werden lässt, kämpfen die BewohnerInnen dafür, zumindest hier vor den Peitschenhieben des Systems geschützt zu sein. Weil die Drogenmafia immer präsenter wird, ziehen Aktivisten um die Häuser. „Hey du, kauf hier kein Gras, du machst damit unser Viertel kaputt." Um die Dealer und Junkies vom zentralen Platz zu verscheuchen, werden dort Konzerte veranstaltet und Tischtennisplatten aufgebaut. Es gibt Veranstaltungen für Kinder und mittlerweile wird auch spät in der Nacht noch Basketball auf einen schiefen Korb gespielt. Das gesellschaftliche Spiel wird von den unheimlich gut organisierten Gruppen diktiert. Weil die Dealer immer aggressiver wurden, tauchte an einem Samstagnachmittag eine Gruppe Vermummter auf, bewaffnet mit Maschinengewehren. Zwei Dealer verschwanden daraufhin spurlos. Als sie wieder auftauchten, mussten sie eine Botschaft überbringen: „Verschwindet aus unserem Viertel. Ixachia gehört den Anarchisten." Nur ein Vorgeschmack auf das, was noch folgen wird?
Nur zusammen kann man in dieser Zeit überstehen. Liegt zu viel Müll auf den Straßen, das erzählt mir ein Freund, ruft einer auf Plakaten zu einem Treffen am Ixachia-Square auf. Es kommen vielleicht zehn, vielleicht 50 Leute. Dann werden Gruppen organisiert und der Müll beseitigt. Oder der Park: Weil es keine Grünfläche in dem Viertel gibt, werden Plakate geklebt und Gruppen organisiert. Dann, an einem Nachmittag ziehen Menschen los, bewaffnet mit Schaufeln und Hämmern. Sie reißen eine Parkfläche auf, beseitigen den Beton und schütten Erde drauf. Heute kann man dort seinen Sonntag verbringen.
Oder seinen Montag: denn die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 60%. Nachts treffen sich die jungen Menschen auf den Straßen. Es riecht nach Gras und Bier, die Kneipen sind voll. Ein junger Mann lässt seine Feuerpois durch die Luft tanzen, kleine Gruppen machen Gitarrenmusik. Zwei junge Männer sitzen etwas abseits und betrachten das Treiben. „Hi, ich bin Ahmed." „Wo kommst du her?", frage ich ihn. Syrien.
„Aus Syrien", sagt er. „Wir sind hierher geflohen, über die Türkei. Nur die Männer konnten gehen. Der Marsch über die Grenze hat uns fast umgebracht." Jetzt seid ihr hier. Es gibt praktisch keine Flüchtlingslager hier. Keine Versorgung, kein Geld. In den Vierteln, in dem die Migranten wohnen, treiben sich auch die Faschisten herum. Sie patroullieren durch die Straßen, sie machen Ausweiskontrollen, sie schüren Angst.
„Das hier ist der Himmel verglichen mit dem Ort von dem wir kommen." Obwohl Ahmed mir Grausames erzählt, kann er noch lächeln, als ich ihn nach Problemen mit der griechischen Polizei frage. Er sagt: „Jedes Mal, wenn mich ein Polizist hier schlägt, muss ich daran denken, was die Polizei in Syrien macht. Die Polizisten hier sind wahre Engel."
Viele, die nach Europa wollen, stranden hier, in diesem riesigen Moloch am Mittelmeer. Athen saugt sie auf. Und Europa? Blickt weg. Ruft: Ihr seid Schuld. Es sind eure Probleme. Aber diese Krise ist eine Systemkrise. „Griechenland ist bloß das Versuchslabor des Turbokapitalismus", sagt ein Freund, „hier können sie ausprobieren, was die Menschen alles ertragen können." Es ist eine menschliche Krise, denn der Mensch spielt keine Rolle mehr. Die Rationalität der Zahlen kennt keine Menschlichkeit.
Und was machen die Menschen? Sie singen, sie tanzen, sie trinken, sie feiern. Das Leben geht irgendwie weiter. Wir hören „Gypsy-Jazz" in einem besetzten Park, applaudieren „Lindy-Hopp" tanzenden Pärchen, wir landen auf einer privaten Party, hoch über den weißen Dächern und gehen im Dunst von Raki und griechischem Wein verloren.