Patrick Gensing

Journalist, Redakteur, Autor

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Artikel

Flüchtlingspolitik: Schutzraum Großstadt?

Europa tritt Menschenrechte mit Füßen und für Humanität ein. Die deutsche Flüchtlingspolitik ist höchst effektiv, aber gescheitert. Die Zahl der Angriffe auf Unterkünfte von Asylbewerbern ist gestiegen, die Solidarität mit Flüchtlingen gewachsen. Wie passt das zusammen? Überhaupt nicht. Die Widersprüche in der Flüchtlingspolitik sind so enorm, dass in den Großstädten eine neue politische Bewegung entstanden ist.

Das Mittelmeer wird zum Massengrab. An Europas Grenzen spielen sich grauenhafte Szenen ab. Menschen ertrinken, verdursten, ersticken. Die Überlebenden werden von Soldaten oder privaten Sicherheitsleuten "gerettet" und interniert. "Auch die hohe See ist kein rechtsfreier Raum, auch dort gelten die Menschenrechte." Das sagte Bundespräsident Gauck gestern in einer Grundsatzrede. Und weiter: "Die Bilder der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa, die Bilder der kletternden Menschen am Stacheldrahtzaun der Exklaven Ceuta oder Melilla - sie passen nicht zu dem Bild, das wir Europäer von uns selber haben." Und tatsächlich ist die Flüchtlingspolitik der größte offene Widerspruch des Westens, denn Werte wie Freiheit und Menschlichkeit werden weitestgehend eliminiert.

Das Thema ist komplex - und kann möglicherweise auf drei Ebenen diskutiert werden, die sich zwar im Einzelfall nicht voneinander trennen lassen, die aber helfen können, um nicht den Überblick zu verlieren.

Motive für die Flucht: Warum verlassen Menschen ihre Heimat, ihre Familie, ihren Wohnort? Die Gründe reichen von staatlicher und religiöser Verfolgung über politischer, sexueller oder religiöser Diskriminierung, Bedrohung durch Kriege, Naturkatastrophen und Hunger bis zu dem - überhaupt nicht schlichten - Grund, ein bisschen vom Wohlstand der Welt abbekommen zu wollen.

Die Motive sind also sehr unterschiedlich, genauso wie die individuellen Geschichten der Menschen. Ebenso lassen sich die Ursachen für die jeweiligen Fluchtgründe nicht einfach so darlegen. Monokausale Erklärungen (gerne genommen: "Spätfolgen des Kolonialismus") werden der komplexen Gegenwart nicht gerecht.

Es soll hier daher auch weniger um die Motive für die Flucht gehen, denn es wäre vermessen, diese kurzerhand zu erläutern, sondern wichtig ist die Feststellung, dass es laut UN-Angaben so viele Flüchtlinge gibt wie seit 50 Jahren nicht mehr. Besonders der Krieg in Syrien mit mehr als 2,5 Millionen Vertriebenen spielt hier eine große Rolle, aber auch viele weitere Konflikte, die vor allem in Afrika, Nahost und Asien toben.

Die Flucht an sich: Die meisten der vielen Millionen Flüchtlinge weltweit kommen nicht weit. Zum einen fehlt vielen schlicht die Möglichkeit, sich auf den Weg nach Europa oder in die USA zu machen, zum anderen hoffen die meisten Menschen wahrscheinlich auf eine zeitnahe Rückkehr nach Hause. So haben sich die meisten Syrer in die Nachbarstaaten gerettet, in den Libanon, nach Jordanien oder in den Irak, wo sich viele nun erneut in Sicherheit bringen müssen vor den ISIS-Milizen. Allein durch die Eroberung von Mossul durch die Islamisten sollen weitere 500.000 Menschen vertrieben worden sein.

Nur ein Bruchteil dieser Menschenmassen macht sich auf den Weg nach Europa, noch viel weniger Personen kommen an. An den Küsten Nordafrikas wurden in Kooperation mit der EU Lager errichtet, Zäune zu Exklaven hochgezogen, um die Verzweifelten, die bis hierhin gekommen sind, auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten. Das Problem wird in andere Staaten ausgelagert, outgesourct - oder wie Experten sagen: externalisiert. Durch Abkommen und Partnerschaften schiebt die EU ihre Außenmauer weiter nach Süden, indem weitere Staaten als sichere Drittländer eingestuft und privilegierte Partnerschaften vergeben werden.

Deutschland ist hier in einer besonders komfortablen geografischen Lage, denn welcher Flüchtling wird sich schon in Aleppo in einen Flieger setzen, um sicher in Hamburg-Fuhlsbüttel Asyl beantragen zu können? Keiner. Vielmehr kommen fast alle Flüchtlinge über das Mittelmeer oder den Landweg. Deutschland ist aber von sicheren Drittstaaten umgeben - und das mittlerweile double bzw. sogar triple locked. Fürchtete man früher auf Grund der zentralen Lage in Europa den Zwei-Fronten-Krieg, schützt sich Deutschland heute durch die Nachbarstaaten.

Dennoch liegt Deutschland weltweit in der TOP20 der Staaten, die am meisten Flüchtlinge aufnehmen - allerdings nach absoluten Zahlen, in Relation zur Bevölkerungszahl liegt die Bundesrepublik viel weiter hinten.

Europa schottet sich ab, Milliarden von Euro werden in Programme zur Sicherung der Außengrenzen gesteckt. Die Reaktionen auf Fluchtbewegungen sind oft höhere Mauern, mehr paramilitärische Sicherheitsfirmen und größere Knäste.

"Letzten Donnerstag kam ein Boot an mit Menschen aus Gambia und dem Senegal. Sie waren von der US-Marine gerettet worden. Auf dem Boot hatten sie ihnen gesagt: "Es geht nach Italien". Als sie hier ankamen, haben sie festgestellt, dass sie nicht in Italien, sondern in Malta sind. Sie weigerten sich, ins Lager zu gehen und sind die Nacht über draußen geblieben. Wir mussten sie dann mit Gewalt ins Lager zwingen." Alle Flüchtlinge, die Malta erreichen, werden erst einmal in eines dieser Internierungslager gebracht. Bis zu 18 Monate lang bleiben sie hier.

Aus der Reportage: In Freiheit gefangen von Jan-Christoph Kitzler, ARD

Wie viele Menschen auf dem Mittelmeer ums Leben gekommen, wie viele in der Wüste auf den Weg an die Küste Nordafrikas verdurstet sind, keiner weiß es. Schätzungen zufolge sind in den vergangenen 20 Jahren rund 20.000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen. Andere Quellen gehen von rund 1500 bis 2500 Todesopfern jährlich aus. Auch Experten können die Dunkelziffer kaum abschätzen. Die Flucht nach Europa ist nicht nur teuer, sondern auch lebensgefährlich. Dadurch wird deutlich, dass es den Menschen nicht "nur" um ein besseres Leben geht, sondern es geht für sie schlichtweg um Leben und Tod.

Die Aufnahme der Flüchtlinge: Viele Menschen, die es also nach Europa schaffen, dürften schwer traumatisiert sein. Nun, in Europa angekommen, werden sie erneut vieler Rechte beraubt: In Deutschland gilt die Residenzpflicht für viele Asylbewerber und "Geduldete". Der Status des Flüchtlings wird diesen Menschen verwehrt - und damit gelten für sie auch nicht die Rechte des Genfer Flüchtlingskonvention. Auch auf Transitbereichen auf Flughäfen und auf hoher See soll die Konvention nicht gelten, argumentieren EU und Deutschland, um ankommenden Menschen die dort garantierten Rechte vorenthalten zu können.

Es existieren zahlreiche weitere Auflagen, beispielsweise was das Arbeitsrecht angeht. Ohne weiter ins Detail zu gehen, lässt sich feststellen, dass von Behördenseite alles unternommen wird, um eine Integration zu verhindern. Wer sich über die Rechte von Flüchtlingen informieren möchte, kann dies beispielsweise bei Pro Asyl tun.

In diesem Vakuum leben nun also Tausende Menschen in Deutschland. Sie haben keine Ahnung, wie es weiter geht, haben wenig zu verlieren - und sie haben begonnen, sich zu organisieren und sich zu wehren. Vielen geht es um Leben und Tod - und daher setzen sie auch ihre Gesundheit aufs Spiel: Wochenlange Protestmärsche, Hungerstreiks, Besetzungen. "Wir sind die unterste Schicht der Gesellschaft", schreibt die Initiative Refugee Struggle for Freedom in einer Erklärung. "Unser Körper sind unsere einzige Waffe."

"Unsere einzige Waffe"

Flüchtlinge fordern, dass Anträge auf Asyl anerkannt, die Abschiebungen gestoppt und Gemeinschaftsunterkünfte geschlossen werden. "Die Flüchtlinge haben es geschafft, ihre Lebensverhältnisse auf die öffentliche Agenda zu setzen", sagte mir Karl Kopp, Europareferent bei Pro Asyl. Viele junge Flüchtlinge seien selbstbewusst und oft gut ausgebildet, sagt Kopp: "Sie tragen ihre Forderungen deutlich vor und organisieren sich selbst." Es sei teilweise der Geist des arabischen Frühlings zu spüren. Und dieses Selbstbewusstsein sowie die Selbstorganisation verändern auch die Arbeit von Vereinen wie Pro Asyl. "Wir sind nicht mehr in der paternalistischen Rolle, sondern die Flüchtlinge begegnen uns auf Augenhöhe", sagt Kopp. Für die Aslysuchenden bedeuten die selbstorganisierten Proteste offenbar vor allem, aus dem verwalteten Leben herauszutreten. Ein Flüchtling formuliert es in einem Video auf YouTube so: "Ich fühle mich wieder wie ein Mensch. Ich habe meine Würde zurückgewonnen."

Auch in früheren Jahren hatte es zwar Proteste von Flüchtlingen gegeben, doch dies waren zumeist lokale Aktionen. Dabei ging es in den 1990er-Jahren beispielsweise darum, dass sich Asylbewerber aus Angst vor Übergriffen durch Neonazis dagegen gewehrt hatten, in die neuen Bundesländer verlegt zu werden. Um Neonazis, Stammtischrassisten und feindselige Bürger, die den Flüchtlingen das Leben noch weiter erschweren, soll es hier aber nicht gehen, sondern um die Menschen, die sich mit den Schwächsten der Gesellschaft solidarisieren.

In Hamburg sind in den vergangenen Monaten immer wieder Tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um die sogenannten Lampedusa-Flüchtlinge zu unterstützen. Bei einer Großdemonstrationen waren zwischen 9000 bis 15.000 Personen dabei, nach einem Heimspiel des FC St. Pauli etwa 8000, bei einer Schülerdemo fast 5000. Das sind für die heutige Zeit bemerkenswerte Größenordnungen. Ebenso rumort es in Berlin - und zwar in Kreuzberg. Dort haben Flüchtlinge eine Schule besetzt - und die Grünen machen sich in ihrem eigenen Wohnzimmer wenig beliebt, was das "Konfliktmanagement" angeht.

Was aber in Hamburg und Berlin auffällt: Die Unterstützung für die Flüchtlinge ist nicht auf "die üblichen Verdächtigen" - will sagen: linke Szene - begrenzt, sondern reicht weit ins bürgerliche Lager hinein. Während in Kleinstädten Nachbarn Initiativen gegen Aslybewerberheime initiieren, formiert sich in mehreren Großstädten Protest gegen die repressive Politik der Abschottung.

AnwohernInnen #Ohlauer ziehen laut singend"Kein Mensch ist illegal " durch ihre polizeilich abgeriegelt Straßen pic.twitter.com/ioA68zFeid

- PetShop (@Petmobbb) 30. Juni 2014

Die Missstände und Widersprüche in der Flüchtlingspolitik brechen hier voll auf. Schülerinnen und Schüler erleben, wie Freunde oder Freundinnen abgeschoben werden sollen. Die Polizei muss erklären, warum die Kontrolle schwarzer Menschen kein verbotenes Racial Profiling sein soll. Die SPD scheint sich indes entschieden zu haben: "Recht und Ordnung müssen durchgesetzt werden!" - so klingt es mantraartig aus den Mündern von Olaf Scholz und anderen Sozialdemokraten. Humanitäre Ausnahmeregeln, um Menschen zu helfen, die bereits seit Jahren hier leben, scheinen für viele SPDler fast gleichbedeutend mit dem Ende des Rechtsstaats zu sein. Recht und Ordnung verkommen zum Selbstzweck.

Grünes Kreuzberg?

Für die Grünen, die in Friedrichshain-Kreuberg die Bezirksbürgermeisterin stellen und die selbst aus einer Protestbewegung entstanden sind, wird sich nun zeigen, wie sie mit den Missständen und Widersprüchen in der Flüchtlingsfrage umgehen wird. In den vergangenen Tagen hagelte es Kritik für das Vorgehen des Bezirks in der Ohlauer Schule: übertriebener Polizeieinsatz, mangelnde Pressefreiheit und unangenehme Selbstdarstellung - so die Vorwürfe in Richtung der Öko-Partei.

Beim Thema Flüchtlinge bleibt dem Großstadtbürger tatsächlich leicht der Bio-Bagel im Hals stecken, auch die tatsächlichen und vermeintlichen Folgen der Gentrifizierung erscheinen wie eine Randnotiz angesichts der Tragödien an Europas Außengrenzen und mitten unter uns. Das Thema Flüchtlinge taugt auch nicht, um es in einem Atemzug zu nennen mit beispielsweise dem Abriss der Esso-Häuser auf der Hamburger Reeperbahn. Damit wird man dem Anliegen der Flüchtlinge und ihrem Kampf ums nackte Überleben nicht gerecht.

Künstler, Fußballfans, Schüler, Kirchen, Parteien - die Ablehnung der repressiven Flüchtlingspolitik ist in diversen Milieus zu finden. Und viele Flüchtlinge organisieren sich zudem selbst.

Die Missstände und Widersprüche in der Flüchtlingspolitik sind so enorm und offensichtlich, dass daraus eine neue Bewegung heranwachsen kann. Eine Bewegung, deren Akteure aber eigene ideologische Erklärungen und Ziele zurückstecken müssen. Nur dann kann es gelingen, von den Städten aus eine relevante politische Bewegung zu entwickeln. Eine Bewegung, die zumindest Erleichterungen für die Menschen, die es hierher geschafft haben, auf die politische Agenda setzen kann. Damit hätte sich an den Ursachen für die Flucht erst einmal gar nichts geändert - und dennoch wäre es ein großer Fortschritt.

Siehe auch: Sozial ist, wer alle abschiebt, Hetze gegen Flüchtlinge: Ein echtes 90er Revival?, AI: "EU für Tod von Flüchtlingen verantwortlich"

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