tagesschau.de: Die ISIS-Kämpfer haben mehrere Städte im Irak erobert. Haben Sie in Erbil Angst?
Nihad Qoja: Nein. Die Lage ist ruhig bei uns, die Kämpfe sind mehr als 100 Kilometer entfernt. Zudem können wir uns verteidigen und schützen.
tagesschau.de: Würde sich Ihre Ruhe ändern, falls ISIS weitere Städte einnimmt und weiter an Stärke gewinnt?
Qoja: Generell muss man sagen, dass ISIS nur einen Teil dieser Kämpfer stellt. Dieser Aufstand setzt sich aus verschiedenen Gruppen zusammen, vor allem Sunniten, aber auch Reste der alten irakischen Armee. Sie haben das gemeinsame Ziel, sich gegen die Zentralregierung in Bagdad und die Politik von Ministerpräsident Nuri al Maliki zu wehren. Der sieht Sunniten als Menschen zweiter Klasse an und hat viele Regionen stark vernachlässigt.
"ISIS kann keinen islamischen Staat ausrufen"tagesschau.de: Es handelt sich Ihrer Ansicht nach also eher um einen politischen als um einen religiösen Konflikt?
Qoja: Das würde ich so sagen. Die Sunniten wollen mehr Freiheit und mehr Mitspracherecht im Irak. Religiöse Gruppierungen sind zwar beteiligt, aber sie verfügen nicht über die Macht, um den Irak zu erobern und einen islamischen Staat auszurufen.
tagesschau.de: Also sehen Sie die Schuld für den Konflikt vor allem bei Maliki?
Qoja: Selbst wir Kurden haben Probleme mit der Zentralregierung. Maliki vereint mehrere Posten auf sich. Er hat den ganzen Finanzsektor unter seine Kontrolle gebracht. Er ist fast wie ein neuer Diktator. Wir Kurden versuchen unsere Unzufriedenheit politisch auszudrücken und protestieren. Die Sunniten hatten keine Geduld mehr, sie wehren sich nun mit Waffen.
tagesschau.de: Welche Zukunft geben Sie dem Irak als einheitlichen Staat?
Qoja: Wenn in den kommenden Monaten keine Einigung über echte Gleichberechtigung im Irak erreicht wird, dann wird es auch keinen einheitlichen Staat mehr geben. Derzeit existieren im Irak drei verschiedene Regionen, die sich selbstständig regieren: ein kurdischer, ein sunnitischer und schiitischer Teil. Das ist eine Tatsache - und das müssen die irakischen Politiker verstehen und respektieren.
tagesschau.de: Welche gemeinsame Zukunft könnte es denn überhaupt noch geben?
Qoja: Eine Konföderation aus drei Provinzen oder Bundesstaaten ist möglich. Aber wenn irakische Politiker sich nicht einigen, steht das Ende des Iraks bevor.
tagesschau.de: Ist das für die Kurden auch eine Chance?
Qoja: Ja, das ist eine Chance. Wir werden uns aber auch nicht auf diesen Kurs konzentrieren, wir versuchen weiterhin eine Verständigung zu erreichen, um den Irak zu retten. Aber wenn das nicht passiert, werden wir nicht mehr warten. Dann werden wir unseren eignen Weg gehen - und Irakisch-Kurdistan wird selbstständig.
tagesschau.de: Fühlen Sie sich denn eher als Iraker oder als Kurde?
Qoja: Die junge Generation identifiziert sich gar nicht mit dem Irak. Die ältere Generation hat emotional und kulturell mehr Kontakte. Aber das reicht nicht aus, wenn das Land weiter zentralistisch regiert wird. Die Kurden werden nicht zurückweichen. Wir haben andere Hoffnungen und Prioritäten. Die neue Generation identifiziert sich mit Kurdistan.
tagesschau.de: Was sind das für Prioritäten?
Qoja: Die Menschen fühlen sich hier sicher. Es gibt keine Bombenanschläge mehr, wir haben einen eigenen Geheimdienst, eine Polizei, Soldaten. Die Menschen in Irak-Kurdistan wollen nicht mehr in den alten Irak zurück. Wir haben uns hier anders entwickelt - politisch, kulturell und ökonomisch. Wir pflegen mehr Kontakte zur demokratischen Welt. Erbil hat mehr als 30 ausländische Vertretungen. Die Stadt und die Region hat sich weit entwickelt im Vergleich zu anderen Teilen des Iraks. Und das werden wir nicht wieder aufgeben.
tagesschau.de: Erbil ist in den vergangenen Jahren massiv gewachsen, hat politisch, ökonomisch und kulturell stark an Gewicht gewonnen. Sind Sie stolz darauf?
Qoja: Natürlich sind wir stolz darauf, was wir geschafft haben, beispielsweise im Vergleich zu Nachbarländern, die seit Jahrzehnten selbstständig sind. Die kurdischen Parteien wechseln sich demokratisch ab, wir haben demokratische Institutionen aufgebaut. Es gibt kein Zurück mehr.
"Es gibt kein Zurück mehr"tagesschau.de: Kein Zurück mehr - gilt das auch für die Gebiete sowie die Stadt Kirkuk, die nun von den Kurden kontrolliert werden?
Qoja: Wir werden diese Gebiete nicht mehr verlassen. Das ist eine Tatsache. Wir werden diese Gebiete an unsere demokratische Verwaltung angliedern. Wir haben das Ziel erreicht, die beanspruchten Gebiete zu erobern.
tagesschau.de: Welche Rolle spielt die Türkei, wo ebenfalls viele Kurden leben?
Qoja: Wir haben mittlerweile sehr gute Beziehungen zur Türkei. Der Handel zwischen Irak-Kurdistan und der Türkei wächst massiv und die Türkei hat sich geändert. Sie verfolgt wirtschaftliche Interessen und weiß, dass man durch Militär das Kurdenproblem nicht lösen wird. Es spricht für sich, dass Ankara eine politische Vertretung bei uns hat. Und wir werden eine Hilfe für die Türkei sein bei Konflikten in der Türkei, wir werden vermitteln.
tagesschau.de: Sie haben viele Jahre in Deutschland gelebt, welche Rolle spielt Deutschland in Erbil?
Qoja: Deutschland hat im Jahr 2009 als erstes Land ein Generalkonsulat in Erbil eröffnet. Wir haben viele deutsche Mitbürger, die hier leben und arbeiten. Ich habe selbst eine deutsche Schule gegründet. Es gibt ein deutsches Restaurant - den Deutschen Hof. Die Menschen fühlen sich sehr sicher. Ausländische Mitbürger können problemlos auch abends auf der Straße unterwegs sein. Wir leben in Kurdistan auf einer grünen Insel.
Das Interview führte Patrick Gensing, tagesschau.de