Patrick Gensing

Journalist, Redakteur, Autor

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Sozial ist, wer alle abschiebt

Der 5. Juni 2014 ist ein weiterer Tag gewesen, für den man sich für Hamburg schämen muss. Während auf dem Mittelmeer monatlich weiterhin wahrscheinlich Dutzende Flüchtlinge jämmerlich ertrinken, werden in der Hansestadt Menschen, die für ihre grundlegenden Rechte protestieren, von der Polizei bearbeitet. Von Patrick Gensing

Am Nachmittag hatten sich etwa 70 Personen aus der Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge auf dem Rathausmarkt versammelt. Sie wollten für ihre Rechte demonstrieren. Viele von ihnen sind obdachlos geworden, da Winternotunterkünfte geschlossen wurden. Zudem wurde dem ersten der Lamepedusa-Flüchtlinge mitgeteilt, dass er abgeschoben werden soll.

Die Lage der Flüchtlinge scheint also ziemlich hoffnungslos. Der Unterstützung aus Teilen der Bevölkerung steht die starre technokratische Haltung des Hamburger SPD-Senats entgegen, der ein Bleiberecht für die Mitglieder der Gruppe aus humanitären Gründen ablehnt (was Grüne und Linke sowie Experten rechtlich für möglich halten). Christian Unger schrieb dazu im Hamburger Abendblatt:

Der Senat beruft sich darauf, dass die Lampedusa-Flüchtlinge in Italien zuerst die EU betraten, Italien also zuständig ist. Doch Artikel 3 der Dublin-II-Verordnung legt fest: Der Bund kann die Verfahren von Italien nach Deutschland ziehen. Und Paragraf 23 im Aufenthaltsgesetz gibt Hamburg die Möglichkeit mit Zustimmung des Bundes, Flüchtlingen aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Man muss es nur wollen. In Hamburg und Berlin. So haben 200 deutsche Gerichte in der Vergangenheit eine Abschiebung nach Italien gestoppt - es drohe "unmenschliche Behandlung". Hamburgs Einlenken wäre alles andere als ein "Tabubruch".

Ende einer Protestaktion

Die Diskussion um die Lampedusa-Flüchtlinge polarisiert die Bevölkerung. Bei dem Einsatz gestern am Rathausmarkt weigerten sich nach Angaben von Christiane Schneider aus der Linksfraktion auch Polizisten, gegen die Flüchtlinge vorzugehen.

Eine Polizeieinheit hat heute remonstriert, das ist verbürgt. Alle Achtung #lampedusahh

- Christiane Schneider (@ChristianeSchn2) 5. Juni 2014

Eine Remonstration (von lateinisch remonstrare „wieder zeigen") ist eine Gegenvorstellung oder eine Einwendung, die ein Beamter gegen eine Weisung erhebt, die er von seinem Vorgesetzten erhalten hat.

Es fanden sich aber noch genügend andere Beamte, die den Sitzstreik vor dem Rathaus - innerhalb der Bannmeile also - auflösten. Dabei ging die Polizei mit Tränengas gegen die Menschen vor, nach Angaben von Augenzeugen wurden Protestler durch Tritte und Reizgas verletzt.

Im Netz verbreiteten sich schnell zahlreiche Bilder von dem Einsatz, zudem fanden sich rasch weitere Menschen am Rathausmarkt ein, um die Flüchtlinge zu unterstützen. Nachdem die Sitzblockade aufgelöst worden war, gab es noch eine Demonstration in der Innenstadt.

"Provokation" und "Schlägerei"?

Hamburger Medien berichten nun überwiegend von "Tumulten" oder "Schlägereien" vor dem Rathaus, was den Sachverhalt nicht genau trifft, wenn man Augenzeugenberichte hört und Fotos anschaut - oder Hamburg Mittendrin liest.

Die "BILD" dreht ihren Artikel auf eine "Provokation" der Flüchtlinge vor dem Rathaus. Ist es provokant, wenn Flüchtlinge für ihre Rechte demonstrieren? Davon war Anfang des Jahres übrigens keine Rede, als Polizisten vor dem Rathaus eine Mahnwache abhielten, um gegen den angeblichen - und noch immer nicht erwiesenen - gezielten Angriff auf die Davidwache zu demonstrieren. Da kam Bürgermeister Olaf Scholz sogar noch vor die Tür - und die Hamburger Medien überschlugen sich mit Solidaritätsadressen, berichteten von vielen Bürgern, die sich angeblich an der Mahnwache in der Bannmeile beteiligt hätten, was auf Videos nicht unbedingt zu sehen war.

Klar, die Mahnwache der Polizei dürfte angemeldet und genehmigt worden sein, die Protestaktion der Flüchtlinge nicht. Rechtfertigt das Gewalt, den Einsatz von Reizgas? Wer hatte wohl mehr Anlass, zu demonstrieren und zu mahnen?

Die Situation ist verfahren. Die harte Linie des SPD-Senats hat die Sozialdemokraten selbst in ein Dilemma geführt, was zu den absurdesten Argumentationen führt. Es wäre, so behaupten Sozialdemokraten ernsthaft, höchst ungerecht, würden die Lampedusa-Flüchtlinge das bekommen, was sie wollten - nämlich eine "Sonderbehandlung" (Matthias Iken im Hamburger Abendblatt). Innensenator Neumann will sich ohenhin nicht "von der Straße erpressen lassen", wie er bei einer Veranstaltung im Januar verkündete. Und hinter den Protesten stünden wahrscheinlich sowieso nur "bestimmte Gruppierungen", die die Flüchtlinge instrumentalisierten. Über das Weltbild hinter solchen Aussagen muss man keine Worte mehr verlieren.

Und erst heute verfolgte ich bei Facebook eine interessante Diskussion, in der ein Sozialdemokrat anmerkte, die Hamburger SPD sehe die europäische Flüchtlingspolitik natürlich kritisch. Aber es sei doch ungerecht für die anderen Flüchtlinge, wenn die Lampedusa-Gruppe aus humanitären Gründen nicht nach Italien abgeschoben würden. Eine ganz neue Definition des Begriffs sozial deutet sich hier an: Sozial ist, wer alle abschiebt. Sollte sich die Hamburger SPD schützen lassen, mit der Parole lassen sich bestimmt Wahlen gewinnen.

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