Patrick Gensing

Journalist, Redakteur, Autor

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Artikel

Formation einer Bewegung: Vom Netz auf die Straße

Die Parolen und Verschwörungslegenden geistern seit Jahren durch das Internet. Dort haben sich längst politische Subkulturen entwickelt, die von Parteien und etablierten Medien kaum noch erreicht werden. Die "Montagsdemonstrationen" und ähnliche Aktionen sind Versuche, dieses diffuse Milieu zu einer Bewegung zu formen. Von Patrick Gensing

Die "Forentrolle" sind die digitale Landplage des 21. Jahrhunderts. Sie ziehen über die Kommentarspalten und Facebook-Seiten von großen Medien hinweg und hinterlassen eine verwüstete Diskussionskultur. Längst machen die meisten Internet-Nutzer einen großen Bogen um Kommentarspalten, weil sie den aggressiven, männlich-dominierten sowie oft verschwörungstheroretischen Ton in vielen Foren scheuen. Menschen, die Kommentarspalten moderieren, befürchten angesichts der verdichteten Boshaftigkeit und massiven Menschenverachtung, ihren Glauben an die Menschheit zu verlieren.

Doch die Macht im Netz ist begrenzt. Man kann "Shitstorms" (ein fürchterlicher Begriff übrigens, der beispielhaft für die Verrohung der Sprache im Netz steht) entfachen, Redaktionen mit Leserbriefen bombardieren - und eine überschaubare Gegenöffentlichkeit schaffen. Um aber realen politischen und medialen Einfluss zu erlangen, reicht das nicht aus. Bislang schlummert ein Potential im Netz, dessen Schlagkraft sich nur schlecht abschätzen lässt, das aber für diverse Akteure höchst interessant ist.

Die AfD hat vorgemacht, wie man das Netz nutzen kann, um eine reale Partei zu erschaffen. Die Flügelkämpfe und Irrlichter in der Partei, die zahlreichen Ausfälle auf den Facebook-Seiten der AfD, zeigen aber auch, wie schwer sich die Kräfte bändigen lassen. Dies gilt noch stärker für die „Montagsdemonstrationen". Seit einigen Wochen sind hier die Parolen und Textbausteine zu hören, die im Netz seit Jahren Hunderttausendfach nachzulesen sind.

Politische Subkulturen mit Anspruch

Längst sind politische Subkulturen herangewachsen, die sich dynamisch radikalisieren - und von etablierten Medien weiter entfernen. Denn für jeden Themenschwerpunkt (Israel, Klima, Islam, USA, Gutmenschen-Terror, usw.) gibt es lose Netzwerke im Internet - Blogs, Facebook-Seiten, kleine Magazine. Hier können sich „kritische" Bürger stets mit den neuesten Meldungen zum jeweiligen „Fachgebiet" (gegenseitig) versorgen. So wächst die Bedeutung von monothematischen Angeboten, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bieten.

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Diese Fixierung könnte weitreichende Folgen haben: Denn schaut beispielsweise der Klimaskeptiker in große Medien, findet er Meldungen, die in seiner Subkultur als extrem wichtig erachtet werden, lediglich als Randnotiz. Oder gar nicht. Beispielsweise, weil die Meldung in der Gewichtung der jeweiligen Redaktion als nebensächlich eingestuft wurde oder weil die Quelle schlicht unseriös war.

Daraus folgert unser Klimaskeptiker in einem bemerkenswerten Umkehrschluss, dass die jeweilige Meldung nicht zu unwichtig, sondern vielmehr zu wichtig und brisant sei, um in den „Systemmedien" aufzutauchen. Nicht zufälligerweise sind „die Medien" in diesen Milieus ein Hauptfeind, gesteuert wahlweise von Industrie, Mossad oder FED. Allerdings erkennen viele "Forentrolle" offenbar keinen Widerspruch darin, sich auf Artikel in großen Medien zu beziehen, wenn der jeweilige Inhalt mit der eigenen Weltsicht korrespondiert.

Diese Doppelmoral findet sich in vielen Debatten, die im Netz toben: So sehen neurechte Beschützer der deutschen Kultur offenbar auch keinen Widerspruch darin, sich beim Kampf gegen angebliche Überfremdung und vermeintlichen Sittenverfall auf die Obszönitäten eines türkischstämmigen Autors zu stützen, dessen bemitleidenswertes Gewinsel um Aufmerksamkeit vor allem Anlass zum Fremdschämen bietet.

Gewichtung von Themen

Die Gefahr, in der eigenen Filter-Bubble in vollkommen abgehobene Sphären davonzuschweben, ist längst nicht nur auf „Forentrolle" beschränkt und aus meiner Sicht ein starkes Argument für professionelle redaktionelle Angebote, die Themen gewichten. Das bedeutet nicht, über diese Gewichtung solle nicht gestritten werden, denn offenkundig gibt es vor allem strukturelle Gründe, warum einige Themen oft vorkommen, andere aus meiner Sicht weniger oft. Dennoch kann es nicht schaden, den Wert von Themenvielfalt an sich anzuerkennen und die Diskussionen über die Relevanz der „eigenen" Fachgebiete auch als Realitätscheck zu begreifen.

Diesem Realitätscheck entziehen sich "Forentrolle" durch den erwähnten Umkehrschluss bzw. die Verschwörungslegenden. Diese tragen sie nun seit mehreren Wochen auf die Straßen deutscher Städte. Viele Medienberichte haben zuletzt versucht, die "Montagsdemonstrationen" politisch einzuordnen. Kein ganz einfaches Unterfangen, da von Reichsbürgern über Querfrontler und Neurechte sowie Linksnationalisten so ziemlich jedes Milieu auftaucht. Folgende inhaltliche Klammern zwischen diesen Subkulturen erscheinen mir besonders auffällig:

eindeutig antiwestlich diffus antikapitalistisch fortschrittsfeindlich

Wer die passenden Begriffe dazu sucht: Das NDR-Satiremagazin extra 3 baute mit seinem wunderbaren Bullshitbingo des Rechtspopulismus ein Perpetuum mobile, das durch die folgenden Kommentare wahrscheinlich noch in mehreren Jahrzehnten in Bewegung ist.

Destruktive Bündnisse

Womit wir beim Ausblick wären: Welche Chancen haben die Montagsdemonstrationen? Wächst hier eine neue Bewegung? Die Antwort ist wenig originell: Jein. Deutlich wird, dass sich der Zerfall von politischen, gesellschaftlichen sowie medialen Milieus beschleunigt. Was in den 1980er Jahren mit der Einführung des Privatfernsehens begonnen hat, setzt sich nun im Netz fort. Während das als „Unterschichtenfernsehen" gebrandmarkte Privatfernsehen gebildeteren oder auch konservativen Milieus zu vulgär war, bieten die neuen politischen Subkulturen im Netz auch bürgerlichen Kreisen alle Möglichkeiten, um sich von etablierten Medien oder Parteien zu lösen - die AfD ist das Paradebeispiel für diese Entwicklung. Wie Menschen, die sich schließlich in Verschwörungslegenden verloren haben, überhaupt wieder erreicht werden können, ist eine spannende und wichtige Frage.

Die politische Subkultur der Verschwörungsfreunde ist allerdings höchst diffus, extrem streitsüchtig und kann - wenn überhaupt - nur durch Feindbilder zusammengehalten werden. Solche destruktiven Bündnisse bedürfen einer extrem starken Führung, um in eine reale Bewegung transformiert werden zu können. Danach sieht es derzeit nicht aus. Vielmehr dürften die Figuren, die auf den "Montagsdemonstrationen" als Redner auftreten, gemäßigtere Interessierten eher abschrecken.

Die Auseinandersetzung mit der „Bewegung der Forentrolle" dürfte aber ein Dauerthema werden - denn die Bedeutung des Netzes und dessen Einfluss auf die demokratische Kultur wächst: Daher sollte auch nicht nur hingeschaut werden, wenn Demonstrationen anstehen, sondern auch die politischen Verwerfungen im Internet ernst genommen werden. Denn die Verrohung der politischen sowie Diskussionskultur im Netz ist bereits weit fortgeschritten. Sehr weit sogar.

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