Patrick Dirrigl

Freier (Sport-) Journalist, Köln

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Standards: Die Kunst, einen Freistoß zu schießen

Typische Körperhaltung: Cristiano Ronaldo bereitet sich auf einen Freistoß vor (© REUTERS)

Mit beiden Händen wird der Ball sorgsam auf dem Rasen zurechtgelegt. Es folgen vier raumgreifende Schritte nach hinten, anschließend ein Sidestep nach links. Die Füße des Freistoßschützen stehen so weit auseinander, dass sie sogar noch seine muskulösen Schultern in der Breite überragen. Ein letztes Mal vor dem Anlauf pustet der Schütze kräftig Luft aus seinen Wangen. Endlich löst sich Cristiano Ronaldo aus seiner John-Wayne-Pose und läuft auf den Ball zu.


„Für den Betrachter ist Ronaldo die personifizierte Torgarantie. Zusammen mit seinem auffälligen und beeindruckenden Ritual vor den Freistößen, von denen er ja schon einige verwandelt hat, erwartet man ja auch fast, dass er anschließend trifft", sagt Martin Jedrusiak-Jung, Dozent des Lehrforschungsgebietes Fußball an der Sporthochschule Köln, der bei der EM 2008 und der WM 2010 für den DFB die Turniergegner der deutschen Nationalmannschaft analysierte.


„CR7", der an drei Welt- und vier Europameisterschaften teilgenommen hat, stellte in Frankreich allerdings einen negativen Freistoßrekord bei großen Länderturnieren auf: Von seinen 40 Versuchen seit 2004, den Ball per direktem Freistoß im Tor der Gegner unterzubringen, war keiner erfolgreich. Nur zehn der 40 Freistöße von Ronaldo kamen überhaupt auf das Tor, die restlichen 30 flogen in die Mauer oder über das Tor hinweg.

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Bei der EM 2016 fielen mit vier Freistoßtreffern - in allerdings auch fünfzig Prozent mehr Spielen als bei den vorherigen 16er-Turnieren - hingegen so viele wie nie zuvor in einer EM-Vorrunde. Die vier Schützen waren Eric Dier (England), Balázs Dzsudzsák (Ungarn) und Gareth Bale (Wales), Ronaldos Mannschaftskollege bei Real Madrid, der sogar zwei Freistöße im Tor unterbrachte.


Es gibt bessere Schützen als Ronaldo


Zwei Treffer auf diese Art und Weise bei einer EM - das gelang zuvor nur zwei Spielern: Thomas Hässler 1992 in Schweden und Michel Platini 1984 in Frankreich. „Bale und Ronaldo haben die gleiche Schusstechnik: Sie führen ihre Freistöße immer mit einem Spannschuss aus, mit hohem Kraftaufwand", sagt Jedrusiak-Jung. Durch die Wucht werden die Flugbahnen ihrer Schüsse unberechenbar für ihre Gegner und schwerer kontrollierbar für die Real-Stars selbst. Nach dem Kraftimpuls aus dem Fuß - beim Waliser aus dem linken, beim Portugiesen aus dem rechten - komme der Ball laut Jedrusiak-Jung in eine „langsam steigende Phase, fast ohne jegliche Rotation": Wenn es der Ball über die Mauer schafft, beginnt er meist zu flattern, seine Flugkurve zu verändern oder ab einem bestimmten Punkt einfach herunterzufallen - aus seiner Steigung.


Für Torhüter sind die Schüsse kaum richtig einzuschätzen. Sobald die Flügelstürmer, die beide beinahe das gleiche Anlaufritual pflegen, mit zu viel Wucht schießen oder den richtigen Treffpunkt von Spann und Ball verfehlen, steigen die Bälle entweder nicht schnell genug und landen in der Mauer oder das andere Extrem tritt auf: Die Schüsse der beiden gehen weit über das Tor. Doch wenn die beiden 100-Millionen-Euro-Männer den Ball an der richtigen Stelle treffen, wird er zum Flatterball, in Anlehnung an ohne Rotation geworfene Pitches im Baseball - auch „Knuckleball" genannt.


Für Jedrusiak-Jung sind Ronaldo (47 direkte Freistoßtreffer in seiner Karriere) und Bale (zwölf) Spezialisten, allerdings „gibt es einige bessere", weil technisch beschlagenere Freistoßschützen, die derzeit öfter treffen und im Falle von Fehlversuchen wesentlich knapper scheitern. „Willian vom FC Chelsea hat eine sehr gute Freistoßtechnik. Er schießt alle Bälle mit der Innenseite, dem Innenspann seines Fußes, gibt ihnen so eine seitliche Rotation mit und hat zudem eine hohe Präzision." Der Brasilianer erzielte in der vergangenen Saison sechs Tore per direktem Freistoß, vier davon in der Champions League. Für seine Kunstschüsse in der europäischen Königsklasse benötigte er gar nur fünf Versuche.


„Früher habe ich meine Freistöße auch mit der Innenseite in Richtung Tor gedreht, aber dann habe ich mich entschieden, sie mit einer anderen Technik auszuführen", sagte Bale dem „Telegraph" nach dem Gruppenspiel gegen England, als er einen Freistoß mit einem Spannstoß verwandelte. „Natürlich kann der Ball dann auch 40 Meter drüber gehen - aber wenn er im Tor landet, sieht es dafür umso besser aus." In der Bundesliga gibt es laut Jedrusiak-Jung einige Spieler, die den Ball ähnlich gut „ins Tor schnibbeln" können wie Willian. Hakan Calhanoglu oder Zlatko Junuzovic hebt der Dozent der Sporthochschule Köln hervor.


Grifo ist Deutschlands Kunstschütze


Der erfolgreichste „Schnibbler" der vergangenen Saison im deutschen Profifußball steht allerdings beim SC Freiburg unter Vertrag: Vincenzo Grifo erzielte sechs seiner 14 Saisontore in der zweiten Bundesliga mit direkt verwandelten Freistößen. „Es ist ein Segen, einen Standard-Spezialisten im Team zu haben", sagt Lars Voßler, Ko-Trainer beim SC Freiburg, dessen Spezialgebiet Standardsituationen sind. „Sobald du in Positionen kommst, die die richtige Entfernung für deinen Schützen haben, werden deine Gegner vorsichtiger und wollen Fouls vermeiden", sagt Voßler. Das bringe dem Team bereits im laufenden Spiel zusätzliche Möglichkeiten und Räume. Kommt es zum Foul, „ist jeder Schuss eine gute Torchance".


Trotzdem wurden bei Welt- und Europameisterschaften die wenigsten Tore durch direkte Freistöße erzielt. Bei den letzten fünf Europameisterschaften war der prozentuale Anteil von Freistoßtreffern an allen erzielten Toren nie höher als vier Prozent: 2000 waren es 2,3 Prozent (zwei von 85 Toren), 2004 3,9 Prozent (drei von 77 Treffern), 2008 und 2012 fielen je 1,3 Prozent der Tore durch direkte Freistöße (je ein Tor von 77). Die 4,5 Prozent der EM 2016 (vier der 88 Tore) liegen nur knapp über dem Trefferschnitt früherer Turniere. „Bei beiden Treffern von Bale sahen die Torhüter eher unglücklich aus. Der Freistoß von Dzsudzsák gegen Portugal war klar abgefälscht", sagt Voßler und relativiert die Anzahl der bislang direkt verwandelten ruhenden Bälle noch weiter.


Freistoßflanken sind wichtiger


Die Wichtigkeit von Standards, 24 Tore fielen dadurch in den 44 Spielen (27,3 Prozent), bleibt in Frankreich hingegen unverändert hoch. „Wenn der Anteil an Treffern nach Standards so hoch ist, sollten sie im Training immer ein Thema sein: Rund 30 Prozent Torquote - dann sollte man auch 30 Prozent der Trainingszeit dafür aufbringen", sagt Voßler. Der Freiburger Ko-Trainer ist sich sicher, dass Standardsituationen in der K.o.-Runde der EM nochmals an Wichtigkeit zulegen werden, vor allem, weil die Spiele mit der Dauer des Turniers noch enger würden.


Die Statistik gibt ihm recht: Sieben der 19 Treffer in den Achtelfinals (36,8 Prozent) fielen nach Standards. Nur 16 Prozent der Tore nach ruhenden Bällen gehen bei der EM in Frankreich auf direkte Freistöße zurück: Sollten also beispielsweise die Portugiesen im weiteren Turnierverlauf vermehrt auf Freistoß-Flanken statt direkter Ronaldo-Schüsse setzen? „Die Frage stellt sich gar nicht", sagt Voßler. „Ronaldo hat aufgrund seiner konstanten, unfassbaren Leistungen ein großes Standing im Nationalteam", niemand würde ihm den Ball streitig machen.


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