1 Abo und 3 Abonnenten
Artikel

Einstiegsdroge in die „grüne Ruhe"

„Viele Kinder sind pflanzenblind", sagt Michael Kiehn, Direktor des Botanischen Gartens der Universität Wien. Pflanzenblind? „Es ist entwicklungspsychologisch nachgewiesen, dass Kinder Pflanzen oft nicht als Lebewesen wahrnehmen."

Um dem entgegenzuwirken, hat Kiehns Institution ein Gegenmittel gefunden. „Drogen- und Arzneipflanzen sind ein Türöffner." Kinder und Jugendliche holen sich Informationen dazu heute aus dem Internet, so Kiehn. „Um diese aber ohne Gefährdung richtig beurteilen zu können, braucht es eine hohe Vermittlungskompetenz, keinen erhobenen Zeigefinger." Führungen zu diesem Themenkreis zählen in der an den Garten angeschlossenen Grünen Schule deshalb zu den beliebtesten ihrer Art. Gerade für experimentierfreudige Zehn- bis Zwölfjährige könne man so ein erstes Interesse für die Welt der Pflanzen wecken, sagt Kiehn.

Ein ähnliches Interesse führte 1754 auch zur Gründung des Universitätsgartens am Rennweg in Wien: Der Leibarzt Maria Theresias riet zur Kultivierung von Medizinalpflanzen. Heute geht es um die Erhaltung gefährdeter Arten, um Lehre und Forschung an den lebendigen Exponaten, aber auch um Volksbildung.


Harry Potter öffnet Zugang

Das Vermitteln der Faszination für die Natur ist dem Direktor ein Anliegen. Sein Motto: Ausgehend vom Bekannten überträgt sich die Neugier auf das Unbekannte. „Dank Harry Potter kennt heute praktisch jeder die Alraune, eine mystische Pflanze, die Halluzinationen hervorrufen, aber auch tödlich wirken kann. Viele Kinder sind überrascht, dass es sie tatsächlich gibt. Wir nutzen dies, um über sie bestimmte Phänomene aus der Pflanzenwelt zu erklären, etwa Abwehrmechanismen."

Damit die Kinder den Botanischen Garten aber auch auf eigene Faust erkunden können, hat die Uni Wien gemeinsam mit dem Gregor-Mendel-Institut der Akademie der Wissenschaften nun ein Spiel für Smartphones entwickelt: „Botanic Quest" ist eine Anwendung, die ähnlich einer Geocaching-App die Benutzer durch eine Schnitzeljagd begleitet.

Die Spieler müssen sich dabei auf einer interaktiven Landkarte des Gartens zurechtfinden und zwischen den Pflanzen versteckte Codes finden. Die erste Station führt zu Sukkulenten wie dem Ohrwaschlkaktus. An jedem Versteck werden leicht verständliche Informationen zum Leben der Pflanzen auf dem Smartphone zugespielt. Darunter sind auch Stationen, die alle Sinne einbeziehen und die Kinder etwa auffordern, die Rinde des Mammutbaumes anzugreifen - weil sie besonders weich ist.

Biodiversität - also die Vielfalt von Lebewesen - zu fördern und zu erforschen heißt ein weiterer Auftrag des Uni-Gartens, gemeinsam mit dem Department für Botanik und Biodiversitätsforschung. Tierökologe Konrad Fiedler beobachtet, wie Artengemeinschaften von Tieren gesteuert werden, und vergleicht dabei sehr artenreiche tropische Lebensräume mit den weniger artenreichen unserer Breiten. „Bei den Wiesenflächen im Nationalpark Donau-Auen etwa stellt sich die Frage, ob und wie regelmäßig gemäht werden soll, damit die Fläche für Schmetterlinge und andere Insekten als Siedlungsraum attraktiv bleibt", erklärt er.

In einem anderen Projekt wählt man gemeinsam mit der HBLFA Schönbrunn, der Gartenbauschule am Grünen Berg, trockenresistente Arten für die Bepflanzung von Verkehrsinseln aus. Kiehn: „Außerdem haben wir in der Arbeitsgemeinschaft österreichischer botanischer Gärten ein Frühwarnsystem entwickelt, das auffällige Neobiota (eingeschleppte Arten, Anm.) porträtiert, die potenziell invasiv werden."

Insgesamt gibt es in Österreich rund 1400 nicht heimische Pflanzenarten. Davon sind 40 bis 50 tatsächlich invasiv, das heißt, sie bewirken Veränderungen in den vorhandenen Lebensgemeinschaften und Ökosystemen.


Gefährdete Arten schützen

Um gefährdete Arten zu schützen und zu studieren, legt der Botanische Garten auch Erhaltungskulturen an: Dabei werden Lebensräume rekonstruiert und Pflanzen mit genau bekannter Herkunft eingebracht. Auch Tiere - etwa die 130 Wildbienenarten im Garten - profitieren von dieser Vielfalt. „Gefährdete Pflanzenarten sollen bei uns kleine Populationen bilden", sagt Kiehn. So lässt sich deren genetische Vielfalt erforschen.

Die Relevanz dieser genetischen Diversität wird etwa an den Frostschäden der Obstbäume im vergangenen April anschaulich: Der Zeitpunkt ihrer Blüte ist (wie der Umgang der Bäume mit Trockenheit usw.) auch innerhalb einer Art verschieden und individuell genetisch festgelegt. Hält der Trend zu spätem Frost an, werden Bäume, die noch später blühen, auf natürliche Weise profitieren.

„Biodiversität ist auch für uns gesundheitsfördernd und puffernd", sagt Kiehn, der seinen acht Hektar großen Garten auch als Erholungsraum inmitten der Stadt sieht. „Es liegt eine grüne Ruhe in der Diversität."

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)


Zum Original