Hektisch fische ich den silbernen Streifen aus meiner Jackentasche, taste nach dem richtigen Wochentag und knipse die kleine weiße Perle heraus, ohne hinabzublicken. Ich tue so, als würde ich dem Gespräch am Tisch folgen, nicke zustimmend oder lache, wenn es die anderen tun. Ganz beiläufig schiebe ich mir die winzige Tablette zwischen die Lippen, schlucke sie mit bloßem Speichel hinunter und lasse den Blisterstreifen unauffällig wieder in die Tasche wandern, als wäre es eine illegale Substanz, die ich hier am Restauranttisch konsumiere. Mein Blick überfliegt noch einmal die Runde und prüft, ob es wirklich niemand mitbekommen hat. Keine Kommentare, Mission erfüllt.
Patricia Friedek
geboren 1995, ist freie Journalistin und Redakteurin mit polnischen Wurzeln. Sie hat Angewandte Sprachwissenschaften, Journalistik und Politikwissenschaften in Dortmund und Kalifornien studiert und lebt nun in Bremen. Am liebsten schreibt sie über Gesellschaft in Osteuropa, Feminismus und Politisches. Sie ist Stipendiatin der Internationalen Journalisten-Programme.
Wenn die Einnahmezeit meiner Minipille auf ein Treffen mit Bekannten fällt, die ich nicht zu meinem engsten Freundeskreis zähle, mache ich es fast immer so. Als Teenagerin nahm ich die Pille zu für mich ungünstigen Zeiten ein, aus Scham, so offen ein Verhütungsmittel zu schlucken. Heute hat die Heimlichtuerei andere Gründe.
Denn die Antibabypille steht gesellschaftlich so stark in der Kritik wie noch nie, und das ist gut so. Eine aktuelle Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestätigt das: Das Kondom hat die Pille als beliebtestes Verhütungsmittel in Deutschland erstmals seit vielen Jahren abgelöst. Zudem nehmen immer mehr Menschen eine ablehnende Haltung gegenüber hormonellen Verhütungsmitteln ein. 61 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass Verhütung mit Hormonen "negative Auswirkungen auf Körper und Seele" habe.
Neulich bekam doch jemand mit, dass ich die Pille schluckte. Ob ich wisse, wie ungesund das sei? Also sie habe das ja hinter sich. Und fühle sich jetzt viel gesünder und erfüllter, beteuerte die Person. Sie warf mir einen missbilligenden Blick zu.
Ich wünschte ja, ich könnte das ebenso von mir behaupten. Aber die Pille ist für mich ungewollt zur Retterin in der Not geworden. Und zu mehr als einer "Antibaby"-Pille. Denn auch ich hatte mich schon mal von der Pille getrennt - bis der Verdacht auf Endometriose mich wieder mit ihr zusammenbrachte. Nun führe ich eine toxische Beziehung mit ihr, bei der ich weiß, dass sie mir langfristig nicht guttut. Aber ohne sie wäre es nur noch schmerzhafter.
Die Antibabypille war schon immer kontrovers, die Diskussion um sie ist fast so alt wie die Pille selbst. Als das erste Hormonpräparat 1961 auf den deutschen Markt kam, sollte es offiziell bei Menstruationsbeschwerden helfen, die Empfängnisverhütung stand bloß als Nebenwirkung in der Packungsbeilage. Doch schnell machte sich ein Gefühl in der Gesellschaft breit: Das hier ist ein Durchbruch für die weibliche Sexualität. Die Pille wurde als emanzipatorische Errungenschaft, als Befreierin von der ungewollten Schwangerschaft gefeiert.
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Abends um 10 nach 8 wird Abseitiges relevant, Etabliertes hinterfragt und Unsichtbares offenbart.
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Damals warnte die Kirche vor einer "allgemeinen Aufweichung der sittlichen Zucht", die Ärzteschaft vor einer "Sexualisierung unseres öffentlichen Lebens". Und auch später behaupteten Kritiker:innen, die Pille sei dafür verantwortlich, dass die Geburtenrate in Westdeutschland eingebrochen war, vom "Pillenknick" war die Rede. Heute ist man sich sicher, dass das ein Irrtum war - eher die allgemeine Individualisierung der Gesellschaft und der Trend hin zu mehr Selbstverwirklichung führten dazu, dass weniger Kinder zur Welt kamen.
Nur wenige Proteste und Befreiungsfeten später wurden schon in den Siebzigerjahren die gesundheitlichen Bedenken laut, die heute noch den Diskurs um die Pille dominieren: Depressionen, Libidoschwund, Müdigkeit, Thrombosegefahr, um nur ein paar der Nebenwirkungen zu nennen. Viele Frauen setzten die Pille wieder ab. Was zunächst als feministischer Befreiungsschlag bejubelt worden war, schien sich als das Gegenteil zu entpuppen. Viele Frauen wollten nicht mehr allein die Last für die Verhütung tragen, die ja immerhin beide Geschlechtspartner betreffe.
Hektisch fische ich den silbernen Streifen aus meiner Jackentasche, taste nach dem richtigen Wochentag und knipse die kleine weiße Perle heraus, ohne hinabzublicken. Ich tue so, als würde ich dem Gespräch am Tisch folgen, nicke zustimmend oder lache, wenn es die anderen tun. Ganz beiläufig schiebe ich mir die winzige Tablette zwischen die Lippen, schlucke sie mit bloßem Speichel hinunter und lasse den Blisterstreifen unauffällig wieder in die Tasche wandern, als wäre es eine illegale Substanz, die ich hier am Restauranttisch konsumiere. Mein Blick überfliegt noch einmal die Runde und prüft, ob es wirklich niemand mitbekommen hat. Keine Kommentare, Mission erfüllt.