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Quelle Selbstauskunft: Falsche Opferidentitäten im Netz

Das Internet wurde offenbar mal wieder für dumm verkauft. Die querschnittsgelähmte Ärztin Julia Gothe, ihr Blog „Jule Stinkesocke" und der dazugehörige Twitteraccount mit über 60.000 Followern könnten ein einziger großer Fake sein. Ein inzwischen gesperrter Twitterpost zeigte zahlreiche Ungereimtheiten auf. Mehrere Nutzer ergänzten weitere Indizien. Tatsächlicher Urheber des „Stinkesocke"-Accounts, der aus dem Leben der anfangs etwa zwanzigjährigen Rollstuhlfahrerin berichtete, scheint Markus L. zu sein. Der Trainer eines Hamburger Schwimmvereins für Menschen mit Behinderung lächelt auf dem Profilbild seines echten Accounts milde und grauhaarig in die Kamera. Auch erdichtet wäre, wenn die falsche Urheberschaft stimmt, Gothes ebenfalls im Rollstuhl sitzende Pflegetochter im Teenageralter. Zu den skurrileren Wirrungen der Sache zählen regelmäßige Tweets über die lähmungsbedingte Inkontinenz von Julia Gothe, deren koketter Detailreichtum nun, gelinde gesagt, Fragen aufwirft.


Der Fall erinnert an Marie Sophie Hingst, der im Sommer 2019 Schlagzeilen machte. Die vermeintlich jüdische Historikerin hatte jahrelang auf ihrem Blog „Read on my dear, read on" über ihre Großeltern geschrieben, die Auschwitz überlebt haben sollten. Zwanzig Familienangehörige wollte sie in der Shoa verloren haben. Unter verschiedenen Decknamen veröffentlichte sie außerdem Artikel über ehrenamtliche Tätigkeiten in einem indischen Slum sowie als Sexualaufklärerin für geflüchtete Männer. Das Magazin enthüllte schließlich: alles gelogen. Sechs Wochen später war Hingst tot. „Lebendig gehäutet" habe man sie, so formuliert sie es in ihrem letzten Interview; sie, die „gierige Diebin, hungrig nach Worten", mit der es, wie die ganze Welt nun sehen könne, „nicht gut geendet" sei.


Die Wahrheit herbeischreiben

Derart tragisch gehen die Geschichten normalerweise nicht aus, die echten nicht und die erfundenen schon gar nicht. Hochstapler gab es schon immer, und sie sind seit jeher beliebter Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. Ob der Hauptmann von Köpenick oder Thomas Manns Felix Krull, Frank William Abagnale („Catch Me If You Can") oder Anna Sorokin („Inventing Anna"): die Lüge als Lebensmodell hat offenbar generationenübergreifend etwas Inspirierendes. Dass die sozialen Medien sich dafür besonders eignen, ist keine neue Erkenntnis. Nirgendwo ist es so einfach, Wahrheit herbeizuschreiben. Allerdings scheint sich eine weitere Entwicklung abzuzeichnen, die dem Internet als Diskursraum eigen ist.


Der klassische Hochstapler, das steckt schon im Begriff, erfindet Eigenschaften oder Fähigkeiten, die seinen gesellschaftlichen Status erhöhen. Er lügt über Berufsabschlüsse, Reichtum, militärischen Rang - er lügt sich hoch. Ein Gert Postel fälscht kein Hauptschulzeugnis, sondern eine Approbationsurkunde. Der Hochstapler will etwas Besseres sein. In den sozialen Medien funktioniert das auf den ersten Blick nicht anders: auf Instagram speisen die Influencer nur vom Feinsten und erleben einen luxuriösen Urlaub nach dem anderen, auf Twitter verbessern Universalgelehrte einander bis zum Umfallen und LinkedIn hat überhaupt nur die Kundgabe des eigenen Aufstiegs zum Zweck.

Das Internet kennt allerdings auch eine andere, eine weichere Sphäre. Eine, in der man die eigenen Privilegien nicht stolz vor sich herzutragen, sondern zu reflektieren und in den Dienst der guten Sache zu stellen hat. Eine Sphäre, die nach Sprecherpositionen fragt und Betroffenheit zum Ticket dazu macht. Als Gegenentwurf zur „Welt da draußen" mit ihren überaus realen Diskriminierungen wird in diesem Raum bewusst denen zugehört, die unter diesen Diskriminierungen leiden. Oder es vorgeben. Quelle: Selbstauskunft. Die Zweifel können noch so groß sein, angegebene Erlebnisse oder gar ganze Identitäten zu hinterfragen, ohne das Gegenüber der Lüge zu bezichtigen, ist ein kommunikatives Kunststück, das man wohl zurecht lieber bleiben lässt, bevor man es verbockt.


Tatsächlich erlittene Diskriminierungserfahrungen werden schließlich in Räumen, in denen die Mehrheitsgesellschaft dominiert, häufig reflexartig als Übertreibung oder Lüge abgetan. Die Antwort der Guten ist ein geradezu demonstrativer Vertrauensvorschuss gegenüber jedem, der angibt, Opfer zu sein. Tatsächliche Opfer machen so, nicht selten zum ersten Mal, die Erfahrung: hier muss ich niemandem etwas beweisen, hier wird mir geglaubt. Ein im besten Sinne des Wortes ermächtigendes Moment. Und eine Einladung an Menschen, die zwar keine Betroffenheit vorweisen können, aber sich nach Aufmerksamkeit, Zuwendung und Lobpreisung sehnen.


Die alte Liebe zum Seemansgarn

Zugegeben: die Erfindung von Opferidentitäten ist als solches älter als Social Media, in Bezug auf den Holocaust sogar so alt, dass es einen eigenen Begriff dafür gibt. Wilkomirski-Syndrom nennt man die merkwürdige, mehrheitlich deutsche Angewohnheit, sich eine jüdische Biografie inklusive selbst oder familiär erlebter Völkermordgeschichte auszudenken. Die Bezeichnung geht zurück auf den Schweizer Bruno Dösseker, der 1995 im Verlag Suhrkamp unter dem Pseudonym Binjamin Wilkomirski eine Autobiographie über seine vermeintlichen Erlebnisse als jüdisches Kind im von den Nazis besetzten Osteuropa veröffentlichte. Drei Jahre später entlarvte die Schweizer Wochenzeitung Weltwoche die Geschichte als vollständig erfunden.

Auch eine literarische Bearbeitung des Wunsches, marginalisiert zu sein, um in linken Diskursen an Deutungshoheit zu gewinnen, hat es schon gegeben. In Mithu Sanyals Roman „Identitti" legt sich eine Professorin der Postcolonial Studies eine indische Identität zu. Ihre Studentin, die Erzählerin, ist tief enttäuscht und verlangt Antworten, die die Professorin schuldig bleibt - und die Autorin erst recht, die Geschichte gleitet zum Ende hin ins Surreale, das große Aha-Erlebnis bleibt aus, weil es ausbleiben muss.


Sanyals Romanfigur rechtfertigt sich immer wieder mit einer Gegenfrage, die in ihrem Trotz beinahe charmant ist: Was ist eigentlich so schlimm daran, über die eigene Marginalisierung zu lügen? Schließlich sei das, was sie zuvor über ihr Fach gesagt und geschrieben habe, dadurch kein Stück weniger wahr. Auch im Fall von Julia Gothe, der mutmaßlich fiktiven Rollstuhlfahrerin, kommt man an diesem Gedanken nicht recht vorbei. Denn in einer Sache sind sich kommentierende Nutzer, die selbst im Rollstuhl sitzen, einig: Wer auch immer den Account betrieb, wusste genau, wovon er redet. Vollkommen authentisch wurde vermittelt, was ein Leben mit Querschnittslähmung ausmacht. Unzählige nichtbehinderte Leser berichten, wie Blog und Account Horizonte erweitert, unterhalten, neues Wissen gebracht haben.


In all diesen Geschichten mag eine Lektion über die Überbewertung von Betroffenheit als Sprechbedingung liegen oder über den sozialen Gewinn des Opferseins in linken Räumen. Womöglich lernt man hier auch nichts weiter als die uralte Liebe des Menschen zum Seemannsgarn, dessen Beschaffenheit sich eben mit der Zeit wandelt wie alles andere auch. Sicher ist nur, dass im Internet nie irgendetwas sicher ist. Aber das wussten wir auch schon vor der großen Opfermaskerade.

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