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Oder soll man es legalisieren?

Pushbacks verstießen lange gegen geltendes Recht - nicht erst das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stellt diesen Status in Frage

Von Özge Inan


Rund 1.500 Menschen machten sich im Frühjahr 2016 aus dem griechischen Flüchtlingslager Idomeni auf den Weg nach Nordmazedonien, wo Grenzsoldaten sie abfingen, auf Lieferwagen luden und zurück nach Griechenland brachten. Ein Kollektiv, eine Ausweisung - aber trotzdem keine Kollektivausweisung, urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Anfang April. Jedenfalls keine von den gemäß Artikel 4 des vierten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention verbotenen. Geklagt hatten acht Betroffene aus Afghanistan, Irak und Syrien mit Unterstützung des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) sowie der Migrationsrechtsorganisation Pro Asyl.

Nach einhelliger Auffassung der neunköpfigen Zweiten Sektion des Gerichtshofs hätten die Flüchtenden die Möglichkeit gehabt, die Grenze regulär zu passieren und in Nordmazedonien Asylanträge zu stellen. Entsprechende Stellen hätten unweit des Ortes, an dem sie aufgegriffen wurden, zur Verfügung gestanden und seien nicht in Anspruch genommen worden. Dies deute darauf hin, dass Nordmazedonien nur als Transitland habe dienen sollen, was aber rechtlich nicht mehr möglich gewesen sei.


In einem etwas anders gelagerten Fall im Jahr 2011 hatte der Gerichtshof noch Verständnis dafür, dass EU nicht gleich EU ist und ein flüchtender Mensch seine Gründe haben kann, in ein ganz bestimmtes Land zu wollen. Damals hatte ein Afghane geklagt, der über Griechenland nach Belgien geflüchtet und von den belgischen Behörden nach Griechenland zurückgeschoben worden war. Es sei nachvollziehbar, so das Gericht damals, dass der Beschwerdeführer aufgrund der niedrigen Schutzquote Griechenlands im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten kein Vertrauen in ein griechisches Asylverfahren habe.

Für Nordmazedonien scheint das nicht zu gelten. Dabei hatte das Land am 8. März 2016 selbst angekündigt, bis zum 21. September 2016 keine Asylanträge mehr anzunehmen. Damals hatte die sogenannte Balkanroute Schlagzeilen gemacht. "Der Gerichtshof ignoriert die damaligen tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze ebenso wie die Tatsache, dass es monatelang gänzlich unmöglich war, irgendwo in Nordmazedonien Asyl zu beantragen", kommentiert Hanaa Hakiki vom ECCHR in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit Pro Asyl.

Außerdem herrschte zu dieser Zeit in Nordmazedonien die Praxis, Asylsuchende in Aufnahmezentren zu inhaftieren, falls sie sachdienliche Hinweise auf ihre Schleuser liefern können. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beziffert die durchschnittliche Dauer dieser rechtswidrigen Haft mit zwei Wochen - die sich für die Geflüchteten, oft gerade erst aus den libyschen Foltergefängnissen und griechischen Elendslagern entkommen, wesentlich länger anfühlen dürften. Aber auch in normalen Zeiten sieht es für Schutzsuchende in Nordmazedonien nicht rosig aus. Laut Amnesty International wurden im Jahr 2019 von 490 Asylanträgen 407 ohne weitere Prüfung eingestellt, weitere 17 negativ beschieden und genau einer anerkannt.

Die Erfindung von Ausnahmen des Pushback-Verbotes

Trotzdem, so das Gericht, hätten die Beschwerdeführer in diesem Land ihr Glück versuchen müssen, denn die Möglichkeit sei ja da gewesen. Das Urteil wird in juristischen Fachkreisen erwartungsgemäß unterschiedlich aufgenommen, wenn auch nicht ganz so kontrovers wie beim ersten Mal, als der EGMR einen Pushback mit dieser Argumentation billigte.

Bereits 2020 erging die bis heute hochumstrittene Entscheidung, die erstmals Ausnahmen vom absolut formulierten Kollektivausweisungsverbot festlegte. Geurteilt wurde über den Fall zweier nordostafrikanischer Migranten, die in der spanischen Exklave Melilla über einen Grenzzaun geklettert waren und dort zurück auf marokkanisches Territorium geschoben wurden. Melilla ist bekannt für zahlreiche Fälle gewaltsamer Zurückschiebungen durch die spanische Guardia Civil und gilt als Quasi-Versuchsfeld des europäischen Grenzregimes. Beispielsweise wendete Spanien hier mit einigem Erfolg eine als "Kaugimmigrenze" bekannt gewordene Strategie an: Der Verlauf der Grenzlinie wurde kurzerhand verschoben, um die von Pushbacks Betroffenen zu Extraterritorialen zu erklären, für die die Europäische Menschenrechtskonvention nicht gelte und für deren Belange der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte somit nicht zuständig sei.

Der Gerichtshof erklärte das in erster Instanz für Unsinn und die Ausweisung der beiden Afrikaner für illegal. Nachdem Spanien Rechtsmittel eingelegt hatte, befasste sich die Große Kammer mit der Sache und die Rechtsprechung machte eine Kehrtwende. Zwar galt weiterhin, dass eine Grenze nicht kaugummiartig verschiebbar ist und die Betroffenen sich auf spanischem Hoheitsgebiet befanden. Die Guardia Civil habe aber trotzdem rechtmäßig gehandelt, entschied die Kammer, weil die Betroffenen die angeblich vorhandenen legalen Zugangswege nicht genutzt hätten. Die Migrationsrechtlerin und Professorin Anna Lübbe urteilt in einem Beitrag auf der Fachplattform Verfassungsblog, Spanien habe damals "schlicht Glück" gehabt. Ausgerechnet die beiden Beschwerdeführer seien es gewesen, die "unter all den ungeprüft und eilrechtsschutzlos zurückgeschobenen Personen" nach ihrer Ausweisung keinen ausreichenden Schutzbedarf geltend machen konnten.


Kein Freibrief für Frontex

Diese Rechtsprechung hat allerdings nichts mit den Pushbacks zu tun, die die europäische Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer durchführt, erklärt Asylrechtsanwalt Marcel Keienborg. Da es auf dem Wasser keinen realen Grenzübergang gebe, auf den Flüchtende verwiesen werden können, könne die Argumentation nicht auf diese Fälle übertragen werden. Jedenfalls vorerst, denn die "bedenkliche Tendenz" des neuen Urteils zeige, dass es eben schnell vorbei sein kann mit Gewissheiten über Recht und Unrecht an den EU-Außengrenzen. Dem stimmt auch Bérenice Gaudin von Sea Watch zu. Die Seenotretter*innen beobachten die neue Rechtsprechung mit Sorge. Auch wenn es keinen unmittelbaren Zusammenhang zu ihrer Arbeit gebe, beeinflusse jede dieser Entscheidungen das Verhalten der nationalen Behörden europäischer Staaten, die besonders von Migrationsbewegungen betroffen sind. Es sei damit zu rechnen, so Gaudin, dass die Bereitschaft zur Durchführung von Pushbacks mit jeder neuen Entscheidung, auf die sich ein Staat berufen kann, steige.

Dass neuen Urteils zeige, dass es schnell vorbei sein kann mit Gewissheiten über Recht und Unrecht an den EU-Außengrenzen, sagt Rechtsanwalt Marcel Keienborg.

Die gegenüber Land-Pushbacks ungleich gefährlicheren Pushbacks auf See, bei denen die Flüchtenden ins offene Meer und damit in die Arme der sogenannten lybischen Küstenwache getrieben werden, bleiben also illegal - laut relativ einhelliger Expert*innenmeinung. Eine Rechtsprechung gibt es dazu noch nicht. Vor den EGMR ist Frontex nicht zu bekommen, denn die EU ist kein Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Agentur damit auch nicht seiner Jurisdiktion unterworfen. Allerdings befasst sich der Europäische Gerichtshof (EuGH), das judikative Organ der EU, seit Oktober 2021 mit der Klage eines Syrers, der trotz eines laufenden Asylverfahrens von der griechischen Insel Kos in die Türkei zurückgeschoben wurde. Es ist das erste Mal, dass ein Frontex-Pushback Gegenstand eines Gerichtsverfahrens ist.


Schwächung des Geflüchtetenschutzes

Währenddessen arbeiten andere EU-Organe mit Hochdruck an einer Schwächung des Flüchtlingsschutzes in Bezug auf Zurückschiebungen. Im Dezember 2021 legte die Europäische Kommission eine neue Verordnung vor, die in Situationen gelten soll, in denen Migrant*innen "für politische Zwecke instrumentalisiert" werden - wie zuletzt in Belarus und zuvor an der türkisch-griechischen Grenze. In solchen Fällen soll eine ganze Reihe an Sonderregeln greifen, darunter ein "Notverfahren für das Rückkehrmanagement". In diesem Notverfahren dürfen Mitgliedsstaaten bestimmte Personen nach eigenem Ermessen von der Anwendung der europäischen Rückführungsrichtlinie ausschließen, die bestimmte Mindeststandards zugunsten der Abgeschobenen gewährleistet, insbesondere im Rechtsschutzbereich. Pushbacks würden dadurch enorm vereinfacht. Eine weitere Neuerung soll für Binnentransfers zwischen Mitgliedstaaten gelten. Umgehend und ohne jede Rechtsschutzmöglichkeit sollen Migrant*innen, die in Grenznähe aufgegriffen und von den Behörden als nicht bleibeberechtigt eingeschätzt werden, zurückgeschoben werden können. Die Kommission lasse "einen Versuchsballon zur Legalisierung von Pushbacks steigen", kommentiert Professorin Lübbe.

Noch immer ist in Debatten über das europäische Grenzregime das Wort "illegal" stets obligatorisches Präfix, wenn es um Pushbacks geht. Das ist spätestens in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen schlicht inhaltlich falsch. Vielmehr gilt es jetzt, argumentative Vorarbeit zu leisten, um der Ausweisung Schutzsuchender auch bei ihrer Legalisierung noch etwas entgegensetzen zu können.

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