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Resozialisierung: "Ich habe mir täglich gewünscht, dass ich hopsgehe"

Sein neues Leben, es wackelt noch. Vor sechs Monaten saß Michael im Gefängnis, heute, an einem klaren Märzmorgen, stapft er in alten Bundeswehrstiefeln über einen Steg an der Nordelbe in Hamburg. Dort liegt das Boot seines Vaters. Durch die Luke führen sechs Treppenstufen in einen offenen Raum. "Das ist der Salon", sagt der 31-Jährige. Neben dem Fenster stehen ein mit blauem Samtimitat überzogenes Sofa und ein pastellgrüner Sessel im Biedermeierstil, auch die Vorhänge sind farblich abgestimmt. "Ich war einmal im Hotel Vier Jahreszeiten essen und diesen alten Chic, den habe ich hier versucht nachzubauen", sagt Michael. Das Boot ist sein Zufluchtsort, wenn es ihm in seiner Einzimmerwohnung zu eng wird, werkelt er hier. Wenn das Wetter gut ist, schläft er hier. Er will damit auch einen Teil seiner Freiheit zurückgewinnen und das Boot später bei Airbnb vermieten, um zu verdienen.

Michael saß mehr als zwei Jahre lang im Gefängnis. Nicht weil er sich mit jemandem geprügelt hat oder einer Oma ihre Handtasche klaute. Michael hat versucht, vier Geldautomaten zu sprengen - an die Geldkassetten kam er nie. Eigentlich möchte er all das hinter sich lassen, seine Zukunft planen, doch durch die Taten hat er knapp 100.000 Euro Schulden.

Im vergangenen Jahr saßen 12.416 Gefangene unter dreißig in Haft, die Mehrheit von ihnen nur für ein paar Monate, andere für ein ganzes Jahrzehnt oder länger. Jedes Jahr kommen Tausende unter 30-Jährige frei. Was macht das mit einem jungen Menschen wie Michael, wenn er ins Gefängnis muss - und wie findet man zurück ins Leben, wenn man für eine gewisse Zeit raus war?

Dies ist seine Geschichte.

Michael heißt eigentlich anders. Er möchte seinen Namen hier nicht lesen, weil er Angst hat, dass er damit seiner Zukunft schaden könnte, und auch, weil er nicht stolz ist auf seine Vergangenheit. Michael und ich haben uns vor mehr als zehn Jahren durch seinen älteren Bruder kennengelernt. Er ging damals noch zur Schule, ich machte gerade meinen Zivildienst in einem Kindergarten.

Michael wuchs in einem Einfamilienhaus auf, mit großem Garten, Flügel und Büchern. "Irgendwann wusste ich nicht mehr, warum ich noch länger zur Schule gehen sollte", sagt Michael. Also brach er nach der zwölften Klasse die Gesamtschule ab. Ein paar Monate später ging er nach Kapstadt. In einem Kindergarten in einem Township verteilte er Essen, brachte die Kinder mittags ins Bett und spielte mit ihnen auf dem Spielplatz. "Ich habe in der Zeit viel über die Verteilung von Ressourcen nachgedacht und wollte Teil einer gerechteren Welt werden", sagt Michael.

Nach einem Jahr dort fiel ihm die Rückkehr in den deutschen Alltag schwer. Er war damals 21, besuchte einen Onlinelehrgang mit dem Titel "Erfolgreich selbstständig werden", brach nach drei Monaten ab, bewarb sich bei der Marine, ging dann aber nicht zur Aufnahmeprüfung. Er versuchte sich als Hausmeister in einem Familienbetrieb, dann wollte er Polizist werden und später Kampfschwimmer bei der Bundeswehr. "Ich wollte, dass was los ist", sagt Michael.

Mit jeder Idee, jedem Versuch und jedem Scheitern wuchs in ihm auch ein Gefühl der Scham, so erzählt er es. Diesen Platz in der Gesellschaft, den man irgendwann zwischen zwanzig und dreißig finden sollte, für Michael schien es ihn nicht zu geben. "Das war eine beschissene Zeit, ich hatte das Gefühl, nirgendwo anzukommen", sagt Michael.

Die Action, die ihm fehlte, suchte er sich bei YouTube. Und irgendwann landete er bei Videos, in denen Geldautomaten gesprengt wurden. Das Feuer, die Gefahr, das Risiko. Es zog ihn magisch an. Unter dem Stichwort Geldautomatensprenger finden sich unzählige Videos, manche mit der Handykamera aufgenommen, andere aus der Überwachungskamera. Manche Videos haben mehrere Millionen Aufrufe. Das Zuschauen allein, reichte Michael irgendwann nicht mehr.

Er hat sich eingelesen, wochenlang alles vorbereitet und seine Sprengungsversuche minutiös geplant. Von dem Geld wollte er sich keine Rolex oder einen Porsche kaufen, er wollte es in seine Ausbildung investieren, sagt er. Michael spionierte Geldautomaten an Sparkassen aus, fand heraus, wie man sich einen Fluchtwagen organisiert und kaufte das für die Taten notwendige Zubehör. Ihm war klar, dass das keine Mutprobe oder ein Schulstreich war, sondern ein Verbrechen. Er wusste, wenn er das machte, konnte er im Gefängnis landen. "Das Risiko habe ich einfach in Kauf genommen", sagt Michael.

Knapp hundert Tage war Michael ein Krimineller.

Am 13. Dezember 2016 wurde er bei einer Reifenpanne mit einem geklauten Fluchtwagen von der Polizei aufgegriffen. Bis zum Prozess dauerte es zwei Jahre. Weil Michael sich in Begleitung seiner Anwältin stellte und Meldeauflagen erfüllte, musste er nicht in Untersuchungshaft.

Am Dienstag, den 19. Februar 2019, um halb elf trat Michael seine Haft an. Die Nacht vorher konnte er kaum schlafen, sagt er. Unzählige Gedanken schnellten durch seinen den Kopf, er musste noch sein Motorrad verkaufen, Mama anrufen, das Nötigste packen: Klamotten, einen Stapel Bücher, Fotos von nackten Frauen aus einem alten Männermagazin. Dann umarmte er einen seiner zwei Brüder, die beide ebenfalls vorbestraft sind, und fuhr zum Gefängnis. Bevor die Tür ins Schloss knallte, drehte er sich um und winkte.

Im Gefängnis habe Michael sich zu einer Art Streber entwickelt, so erzählt er es. Nach drei Monaten durfte er in eine Sozialtherapeutische Anstalt wechseln, das bedeutete mehr Freiheit: regelmäßige Ausgänge, täglicher Besuch und seine Zelle war den ganzen Tag über geöffnet. Der Fokus der sogenannten Sothas liegt auf der Betreuung der Gefangenen, nicht auf der Bestrafung. Durch soziale Trainings, in denen die Straftaten reflektiert und aufgearbeitet werden sollen, und durch psychologische Betreuung gelten Sothas als wesentliches Element zur Senkung der Rückfälligkeit.

Trotzdem sei es keine einfache Zeit für ihn gewesen: Für jede noch so kleine Freiheit musste er einen Antrag schreiben, manchmal waren es Dutzende die Woche. Kleinere Fehler ließen ihm die Wärter nicht durchgehen. Für ihn fühlte sich vieles an wie Schikane: "Es gab einige Ungerechtigkeiten: einen nicht zum Einkaufen gehen lassen, bei dem kleinsten Flüchtigkeitsfehler im Antrag. Wenn sie einen mögen, dann spielt das keine Rolle, aber wenn sie einen nicht mögen, dann sagen sie: Ne, ist nicht, das haben Sie falsch aufgeschrieben - und dann darfst du erst am nächsten Tag einkaufen." Erst sei er empört gewesen und auf Konfrontation gegangen, aber irgendwann habe er aufgegeben, sich zu wehren. "Ich habe das drei Monate über mich ergehen lassen und dann waren die Wärter durch mit ihren Machtspielen", sagt er.

Seine Zukunft, sie begann auch hinter Gittern: Er wusste, wenn er sich anstrengen würde, käme er früher aus der Haft. Deshalb nahm er an sozialen Trainings teil und lernte, wie er mit Geld umgehen sollte, er saß regelmäßig bei einer Therapeutin und begann eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Und er hatte Erfolg, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben: Die Leitung der Haftanstalt genehmigte ihm Hafturlaub, später auf Dauer. Unter der Woche durfte er tagsüber raus zum Arbeiten. An den Wochenenden verdiente er sich durch die Ausbildung Kontingentstunden, die er in Freiheit verbummeln durfte. Als er noch vor dem Ende der Zweidrittelhaft in Freiheit durfte, zog er in eine Einzimmerwohnung, die ihm ein Verein vermittelte. Alle vier Wochen musste er nun noch für ein Gespräch ins Gefängnis.

Nach 782 Tagen im Gefängnis kommt er frei.

Im Sommer 2020, als Michael kurz glaubt, er kann seine neue Freiheit genießen, die Sonne, das Leben, kommt alles anders. Er hat eine schwere depressive Phase, er verlässt kaum das Bett und geht unregelmäßiger zu seiner Arbeit oder zur Schule. Michael kennt das. Schon 2018, als die Polizei gegen ihn ermittelte, habe er eine Depression attestiert bekommen und war in einer Psychiatrie. Damals verfing er sich in Gedankenschleifen, hatte Angst, dass alles rauskommen würde.

Diese zweite depressive Phase war schlimmer. Es habe Tage gegeben, da habe er gehofft, dass er nicht mehr weiterleben müsse. "Ich hätte mein Leben nicht beenden können, aber ich habe mir täglich gewünscht, dass ich hopsgehe. Ich habe es nicht provoziert, aber ich hätte mich gefreut", sagt er. Anfang 2022 sei es dann besser geworden, er sei mit einer Freundin zusammengekommen. Diese depressive Phase sei wieder gegangen, wie sie gekommen sei, sagt er.

Für Michael bedeutet die Resozialisierung, alle vier Wochen einen Bewährungshelfer zu treffen, seine Pflegeausbildung abschließen und nicht wieder straffällig zu werden. "Die Motivation, Straftaten zu begehen, ist völlig weg. Das bin ich nicht mehr. Aber ich bin auch kein Fan von Reue", sagt Michael. Einige nähere Verwandte hätten sich von ihm distanziert, seit er aus dem Gefängnis gekommen sei. "Wenn ich bei denen anrufe, wird das Gespräch abgewürgt, als würden sie sagen: Komm uns nicht zu nahe", sagt er. Doch die Kernfamilie, seine Mutter und die beiden älteren Brüder, seien auch jetzt für ihn da.

Es ist nun später Nachmittag auf dem Boot, die Sonne tief und es wird kalt. Die Luke, an der Michael die vergangenen Stunden gearbeitet hat, kann er an diesem Tag nicht einbauen, das Fenster fehlt. Mit einer Silikonpresse verfugt er mit ruhiger Hand die letzten Ritzen, dann ist Feierabend für heute.

Wie er sich seine Zukunft vorstellt?

"Vielleicht arbeite ich in der Schweiz und reise durch die Welt", sagt Michael.

Glaubt er, dass er seine Schulden je wird abbezahlen können?

"Völlig unrealistisch", sagt er. Von 900 Euro Einkommen würde ihm wenig Geld zum Sparen bleiben. 15 Euro seiner Prozesskosten zahlt er freiwillig monatlich ab, obwohl er das angesichts seines geringen Einkommens gar nicht müsste.

"Ich habe zwar kein Geld", sagt er und lacht, "aber ich bin reich an Erfahrung."

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