Douglaskiefern werfen lange Schatten, die Sonne senkt sich über dem Smith Inlet. Sommerabend in Kanada. Ein Boot, grüne Bergkämme - und vielleicht Bären? Um sie zu sehen, reisen Touristen hierher, in einen Fjord am Pazifik, fern der Zivilisation.
Marg Leehane stellt den Motor ab und greift zum Ruder. "Da sind welche", flüstert sie und dreht das Boot. Doch außer einem schlammigen Uferstreifen mit hüfthohem Riedgras ist nichts zu sehen. "Listen", zischt sie nun, "hör mal!" Ihre behutsamen Ruderschläge stören die Stille kaum. "Think lawn mower, denkt an einen Rasenmäher."
Jetzt ist es unüberhörbar, ein Geräusch, das klingt, als würde eine Kuh Gras fressen, nur energischer. Ein Windstoß treibt Wellen durchs Schilf. In einer zehn, zwöf Meter entfernten Mulde bewegen sich die Halme. Etwas schüttelt und rüttelt an mächtigen Grasstauden - und reißt sie dann runter. Ein Grizzly!
Keine drei Stunden sind vergangen seit der Ankunft in der Great Bear Lodge, einem Holzhaus auf dem Wasser - acht Zimmer, ein Steg, sonst Wildnis. Mit einer alten DeHavilland Beaver ging es von Port Hardy auf Vancouver Island über die Johnstone Strait hinein in eine Welt aus Fjorden, Inseln und immergrünen Sitka-Fichten.
Öko-Tourismus mit den Baumfällern
"Willkommen in Great Bear Country", sagt Marg, als das Wasserflugzeug vor der Pier landet. Die rothaarige Australierin führt das schwimmende Hotel gemeinsam mit ihrem kanadischen Mann Tom Rivest, einem Bärenexperten und Umweltschützer. Ökologisch verträglich soll der Tourismus hier draußen sein. Darum nutzt die Lodge Wind- und Solarenergie. Und darum bietet das Paar Grizzly-Touren an, die die Tiere nicht stören.
Ein schmaler Steg führt direkt in den Wald, den die Besucher ohne Guide nicht betreten dürfen. Der von hier bis nach Alaska reichende Great Bear Rainforest ist die letzte Bastion gesunder Grizzlybärbestände weltweit. Er ist der letzte gemäßigte Regenwald Nordamerikas - und er ist akut bedroht. Von der Regierung, die hier plant, eine Pipeline zu legen. Und von der Forstwirtschaft.
Der von der Great Bear Lodge genutzte Abschnitt des Smith Inlet ist kein durchgehend geschütztes Gebiet, sondern ein Patchwork von Landnutzungsarten. Manche Bereiche sind permanent geschützt, manche nur vorübergehend und andere überhaupt nicht. Ein Forstwirtschaftsunternehmen besitzt einen Pachtvertrag über bestimmte Berghänge und könnte jederzeit mit schwerem Gerät anrücken. Und dann gibt es noch die bislang ungeklärten Landforderungen der kanadischen Ureinwohner, der First Nations.
Marg und Tom begegnen all diesen Unwägbarkeiten mit einer Mischung aus Leidenschaft und Pragmatismus. "Wer an dieser Küste im Tourismus arbeitet, wird nicht reich", sagt Tom. "Die Ungewissheit hat viele Unternehmen abgeschreckt." Es hielten nur diejenigen durch, für die Profit nicht der Hauptantrieb sei. "Marg und ich tun dies für die Bären, für unsere Gäste und für unsere Gemeinden."
Marg erzählt, wie sie alle Baumfäller hasste, als sie nach Port Hardy kam. "Aber wenn du hier alle Baumfäller hasst, dann bist du sehr einsam." Ohne die Community komme man hier nicht weiter, darum hätten sie Kontakt zu den kanadischen Indianern und auch Leuten aus der Forstindustrie aufgenommen. "Unsere Freunde stammen aus Familien, die seit vier Generationen Bäume gefällt haben", sagt Marg. "Jetzt arbeiten viele im Tourismus und für Umweltschutzvereine."
Als Anbieter von Bärenbeobachtungen will sie zeigen, dass die Küste auch anders genutzt werden kann. "Wir schaffen Arbeitsplätze und erzeugen Einkommen, ohne etwas wegzunehmen." Ihre Hoffnung: Je länger sie da ist, desto mehr muss die Regierung sie in ihre Entscheidungen einbinden. Grizzly-Gucken für den guten Zweck.
Zwei Bärenjungen im hohen Gras
Zwölf, höchstens 15 Meter ist der Bär entfernt. "Ein Weibchen", flüstert Marg. Ein brauner Kopf ist aus dem Grasmeer aufgetaucht, schwarze Augen blicken aus dem Wuschelfell. Für einen Moment begutachten sich Tier und Tourist. Dann taucht die Bärin wieder unter, rupfend und raschelnd bewegt sie sich Richtung Priel. "Let's go", flüstert Marg und lässt das Boot lautlos übers Wasser driften.
Nach zehn Minuten verlässt das Tier das hohe Gras und tritt hinaus auf den Uferstreifen. Jetzt zeigt es sich in voller Größe, würdigt die Urlauber jedoch keines Blickes. Nur hin und wieder hält die Bärin inne und schaut über die Schulter, als ob sie auf jemanden warte.
Als sich das Gras auf der Böschung über ihr bewegt, lächelt Marg: "Darf ich vorstellen: der Nachwuchs!" Erst taucht ein hellbrauner Kopf auf, dann ein zweiter. Eins der Bärenkinder stellt sich auf die Hinterbeine und dreht sich in Richtung Wasser. Das bemerkt auch seine Mutter, sie hört auf zu fressen. Als der Kleine sein Interesse an den Menschen verliert und sich ins Gras zurückfallen lässt, wendet sich auch die Bärin ab.
Die Grizzlys im Smith Inlet nehmen nicht Reißaus vor den Touristen. Sie bedeuten für sie weder Gefahr noch Beute. Dass dies so ist, ist auch das Verdienst der respektvollen Grizzly-Touren von Marg und Tom. Weil sie stets die gleichen Stellen im Inlet besuchen und sich dabei immer gleich verhalten, zählen sie für die Bären quasi zum Teil ihres Lebensraumes. Wie lange noch, wissen auch Marg und Tom nicht.
Ole Helmhausen ist als freier Autor für SPIEGEL ONLINE tätig. Die Reise erfolgte mit Unterstützung der Great Bear Lodge und Destination British Columbia.
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