Ole Helmhausen

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Appalachian Trail in den USA: Extremwandern light - SPIEGEL ONLINE

23. Mai 2013, 05:29 Uhr Appalachian Trail in den USA Extremwandern light

Von Ole Helmhausen

Monate dauert eine Wanderung auf dem weltberühmten Appalachian Trail, doch eines der schönsten Teilstücke ist in ein paar Tagen zu schaffen. In den White Mountains sollte man jedoch zweierlei beherzigen: Nicht zu viel an Stephen King denken - und keine Angst vor Yetis.

Stephen Kings "Das Mädchen" geht einem in diesen Wäldern nicht aus dem Kopf. Ein paar Schritte weg vom Trail, und schon ist man vom Dickicht verschluckt. Ein paar Baumfrösche krauchen erschrocken über die Laubdecke, ansonsten herrscht Totenstille. Unheimlich. Der Meister des Horrors lässt die kleine Trisha nicht mehr auf den Trail zurückfinden und fortan durch die Wildnis irren.

Was würde man in so einer Situation tun? Würde man einen kühlen Kopf bewahren? Oder in Panik geraten? Ein Streifenhörnchen verschwindet in einer Felsspalte. Durch das Blätterdach dringen Lichtspeere auf den Trail. Nein, man wäre nicht gewappnet. Man wird ja schon unruhig, wenn zehn Minuten lang keine rote Markierung zu sehen ist.

Begegnungen mit den eigenen Ängsten sind die Spezialität des Appalachian Trail. Dafür ist er lang genug. Die amerikanische Wanderweglegende folgt den Appalachen vom Springer Mountain in Georgia bis zum Mount Katahdin in Maine. Das ist fast so weit wie von Oslo nach Ankara, 3500 Kilometer.

Zahllose Bücher und Artikel wurden über ihn geschrieben, mehrere Millionen Amerikaner nehmen ihn jedes Jahr unter die Stiefel. Und gut 120 Wanderer im Jahr machen den Trail von Anfang bis Ende und nähen sich nachher den Ehrentitel "Thru-Hiker" auf die Joppe.

Auf dem Dach von Neuengland

Der Abschnitt durch die White Mountains in New Hampshire und Maine zählt zu den schönsten - und härtesten - des Trails. Das "Dach Neuenglands" genannte Gebirge ist nicht mal 2000 Meter hoch, doch dafür umso unwegsamer. Die letzten Täler und Pässe, hier "notches" genannt, wurden erst Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckt. Noch immer gehen hier Menschen verloren - keiner weiß das besser als Stephen King, der drüben in Maine wohnt. Und der Mount Washington, mit 1917 Metern der höchste Gipfel, gehört wegen seiner berüchtigten Wetterstürze zu den gefährlichsten der Welt. Die Baumgrenze liegt schon bei 1300 Metern.

Wer den Appalachian Trail in den White Mountains in Angriff nimmt, muss also fit sein. Und stur wie ein Ochse. Denn schon am ersten Abend steckt jeder Kilometer tief genug in den Knochen, um sich die Warum-Frage zu stellen.

Schon die ersten zwölf Kilometer vom Besucherzentrum in Pinkham Notch zur Madison-Hütte haben es in sich. Auf halber Strecke biegt der über die Ostflanke des Mount Washington verlaufende Trail bergwärts und strebt gemeinerweise schnurgerade die bis zu 70 Prozent steile Osgoode Ridge hinauf. Am Ende dieses fiesen Stairmasters balancieren Wanderer - oder krabbeln auf allen Vieren, je nach Verfassung - über einen düsteren Geröllhaufen namens Mount Madison.

Doch für den Ausblick lohnt sich die siebenstündige Strapaze: Die schaurig-schöne Gipfellandschaft des von Extremwetter glatt gehobelten Mount Washington liegt zum Greifen nahe. Die Madison-Hütte ruht auf einem Sattel zu Füßen des Wanderers. Drinnen brennt Licht. Noch 300 Höhenmeter. Abwärts dieses Mal, über ein Geröllfeld. Nie schmeckte Bohnensuppe besser als nach dieser Anstrengung.

Zwischen den Trockenfutter-Depots

Das Hüttensystem des Appalachian Mountain Club (AMC) umfasst acht bewirtschaftete Häuser sowie weitere unbewirtschaftete Unterkünfte und Unterstände. Die Hütten liegen einen Tagesmarsch auseinander und bieten Abendessen und Frühstück sowie vierstöckige Etagenbetten. Decken und Kopfkissen werden gestellt, Duschen gibt es nicht.

Abends sitzen erschöpfte Wochenendwanderer neben halb verwilderten Waldmenschen zu Tisch. Je verfilzter deren Haarpracht, desto größer die Wahrscheinlichkeit, einen "Thru-Hiker" vor sich zu haben. Bis zu sechs Monate brauchen sie von Georgia bis nach Maine. Sie schlafen unter dem Sternenhimmel und ernähren sich von Trockenfutter, das sie zuvor entlang der Strecke deponiert haben.

Doch diese Wanderung ist auch mit Kojen-Reservierung hart genug. Zum Beispiel die elf Kilometer über den zerklüfteten Mount Adams (1749 Meter) und den Mount Jefferson (1714 Meter), immer über der Baumgrenze, mit spektakulären Aussichten über die kahlen Gipfel der Presidential Range.

Hin und wieder zweigen Notfallwege talwärts ab. Die hat der AMC angelegt, nachdem Wanderer von Kälteeinbrüchen überrascht wurden und umkamen, manchmal nur wenige hundert Meter vom nächsten Tagesziel enfernt, der "Lake of the Clouds"-Hütte. Die mit 90 Betten größte AMC-Unterkunft sitzt auf einem Sattel auf der anderen Seite des Mount Washington - einziges Zeichen menschlicher Anwesenheit in einer hochalpinen Kulisse aus Stein und Geröll.

Wie halb domestizierte Yetis

Das Hochgefühl dieses Tages hält auch am nächsten Tag an. Der Muskelkater des ersten Abends ist Geschichte. Die acht Kilometer oberhalb der Baumgrenze zur Mizpah-Hütte sind ein Genuss. Zuletzt jedoch geht es steil, fast senkrecht, zurück in den Wald. Die Gelenke knacken, zum ersten Mal.

Die Wurzeln alter Nadelbäume ragen wie Gerippe aus dem Trail hervor. Der Rucksack verfängt sich, auf den letzten müden Metern ein ziemliches Ärgernis. Dann taucht plötzlich die Mizpah-Hütte auf. Gerade ist eine Schulkasse vom Tal heraufgekommen. Die Kids liegen mit weißen Gesichtern im Gras, japsend wie Fische auf dem Trockenen.

Anderntags dann die ersten echten "Thru Hiker". Sie sehen wie halb domestizierte Yetis aus. Einer hat seine Hose gegen ein um die Hüften gewundenes Hemd getauscht. Die Füße stecken in Gummistiefeln, der struppige Hund, sagt er, läuft ihm schon seit Virginia nach. Der Mann hat mit Software sein Glück gemacht, nun will er herausfinden, welches Glück die Natur bereithält.

Was sind das für Leute, diese "Thru-Hiker"? Psychologen haben sie studiert, natürlich. Ein gewisser O. W. Lacy kam zu der banalen Erkenntnis, zwei Drittel seien introvertierte Einzelgänger, die das Träumen noch nicht verlernt hätten.

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