Prärie, so weit das Auge reicht, staubtrockene Canyons, winzige Dörfer, bodenständige Menschen: Die Badlands im Südosten Albertas sind 90 000 Quadratkilometer grandiose Leere. Eine Reise durch ein fast unbekanntes Kanada
Charlotte und Pat Gilmer zu finden war nicht leicht. Ihre Farm liegt an einer der Schotterpisten, die unangekündigt vom Highway 41 abzweigen und am Horizont im endlosen Grasland versickern. Der nächste Ort ist Consort. Er liegt etwas südlich an einer Stelle, wo sich die Nummern 12 und 41 kreuzen.
Von dort nach Drumheller, mit 8000 Einwohnern der größte Ort der Badlands, sind es 200, nach Calgary 350 Kilometer. Doch diese Zahlen lügen. Die gefühlte Entfernung in diesem Teil Kanadas ist ehrlicher. Gefühlt sind es Lichtjahre.
Auftakt bei den Neutral HillsCharlotte und ihr Mann Pat sind Farmer und Heimatkundler. Deshalb besuche ich sie. Sie wollen mir die Neutral Hills zeigen. Die seien so schön, haben sie mir am Telefon gesagt, dass die Cree und ihre Feinde, die Blackfoot, hier einst lieber gejagt und gefischt hätten, als einander umzubringen. Diese Geschichte gefiel mir. Nun höre ich eine neue. "Das Bild dort an der Wand, das ist Louis Leveille, er war mein Ururgroßvater und ein berühmter Spurenleser", sagt Charlotte. Und dann der Satz, der mich elektrisiert: "Er ritt mit Walsh."
Walsh. Major James M. Walsh, North-West Mounted Police. In Kanada wird dieser Name stets im selben Atemzug mit einem anderen genannt: Sitting Bull! Der Siouxhäuptling fand nach der Schlacht am Little Bighorn im heutigen US-Staat Montana Zuflucht in den kanadischen Cypress Hills. Walsh erwarb sich Respekt, indem er unbewaffnet in Sitting Bulls Lager ritt. Ururgroßvater Louis übersetzte. Er sprach als Spross eines frankokanadischen Trappers und einer Indianerin fünf Sprachen, doch während man Walsh später zum Helden verklärte, wurde Louis vergessen.
Als wir die Neutrals erreichen, baden die runden Grashügel schon im Abendlicht. Nichts Spektakuläres, es ist einfach nur schön hier. Und leer. Pat zeigt mir einen Gedenkstein: "Vor 100 Jahren fand hier alljährlich eine Riesenfete, das Big Gap Ranchers Roundup, statt. Mit Rodeos und Wagenrennen." Wo? Hier? Was wurde aus den vielen Menschen, die früher einmal hier lebten?
Stopp in Sedalia (10 Einwohner)Auf meinem zehntägigen Roadtrip durch die Badlands bin ich plötzlich ein Entdecker. Ich weiß vorher nie, wie es dort aussieht, wo ich hinwill. Denn dies sind nicht die milliardenfach fotografierten und in Reiseführern beschriebenen Rockies. Selbst das renommierte Royal Tyrrell Museum of Palaeontology in Drumheller, das die Dinosaurierfunde aus der Umgebung zeigt, hat daran nichts geändert.
Mit dem Namen "Canadian Badlands" für Albertas Südostecke will man den Dino-Touristen auch den Rest dieser Gegend schmackhaft machen, doch der Erfolg hält sich bisher in Grenzen. Bilder der Landschaft jenseits von Drumheller gibt es deshalb kaum. Und so sind die Badlands geblieben, was sie schon immer waren: rund 90.000 Quadratkilometer hügelige, leere Endlosigkeit, mit Coulées genannten Tälern darin, ein paar Städtchen und Dutzenden verlorenen, chronisch existenzbedrohten Dörfern.
Es geht Richtung Süden, in Richtung amerikanischer Grenze. Unerwartete Schönheit überall, selbst im entlegensten Teil der Badlands, den überwiegend trockenen "Special Areas". So heißen die 20.000 Quadratkilometer zwischen Hanna, Bindloss und Consort. Vor 1914 lebten hier 25.000 Menschen, heute weniger als 5000, Tendenz abnehmend. Die Dürren der 30er Jahre verwandelten diesen Landstrich in die sogenannte Dust Bowl von Kanada.
Die Special Areas, große und leere Kommunen, wurden 1938 als Reaktion auf die wirtschaftliche Misere gegründet. Sitz der Hauptverwaltung ist in Hanna, von dort aus kämpft das Special Areas Board bis heute mit Förderungsprogrammen gegen die Landflucht - seit Neuestem auch mit Tourismus. "Von den Mud Buttes hast du einen schönen Blick auf unsere Gegend", empfiehlt man mir etwas östlich von Consort, in Monitor, "komm nur nicht zwischen eine Kuh und ihr Kalb!"
Zehn Minuten später stehe ich am Rand eines 100 Meter hohen Abbruchs und genieße den Blick über eine Mondlandschaft aus Sedimentgestein hinweg auf die Wölbung der Erdkugel am Horizont. Kein Zaun, keine Bank, kein Schild. Wie schön. Nur ein paar Geologen der University of Alberta sind da. Dies sei eines der besten Beispiele für gletscherverformtes Festgestein in Nordamerika, sagt einer.
Später kaufe ich in Sedalia Proviant. Sedalia, zehn Einwohner, hat ein Postamt, einen Supermarkt und viele leer stehende Häuser. "Wenn wir's nicht haben, brauchst du's nicht", grinst Ed Thornton und zeigt mir, wo die Sandwichs liegen. "Zu trocken, eh?", beginnt der General Manager dann ein Gespräch mit drei Kunden in Overalls. "Wenn es nicht regnet, verlieren wir ein Drittel unseres Getreides!", sagt einer. Woher ich komme, fragt ein anderer. Er sei mal in the city gewesen, sagt er. Er meint Drumheller.
Auch harte Männer tragen Helm: Beim jährlichen "Bullarama" im 1100-Seelen-Dorf Oyen treten die 30 besten Bullenreiter des Landes an. Siegprämie: 12.000 Dollar
Rodeo in Oyen (1100 Einwohner)Jede Familie hier hat Mühsal erlebt. Das macht bescheiden und gottergeben. Gelebt wird Cowboystyle, auch wenn viele inzwischen für eine der Öl- und Gasgesellschaften in Calgary arbeiten. Vieh wird nach wie vor mit Pferden getrieben, und viele junge Männer saßen wenigstens einmal auf einem Bullen. Einige machen das Bullenreiten zum Beruf. "Familientradition", erklärt Brad Mornea die Unausweichlichkeit seiner Berufswahl. Der höfliche junge Mann ist Bullfighter. Also einer, der beim Bullenreiten den tobenden Bullen vom abgeworfenen Reiter weg und auf sich lenkt. Auch beim "Bullarama" in Oyen hat er ein Auge auf seine Kumpel.
Es riecht nach Hotdogs und frischem Maisbrot, als ich eintreffe. Lautsprecher dudeln Garth Brooks' "Good Ride Cowboy". Die Männer tragen enge Jeans mit klobigen Gürtelschnallen. Die Buckle Bunnies, aufgeputzte Mädchen auf der Jagd nach einem Champion, beobachten die Umkleiden. Dort bereiten sich die Bullrider, ernste, junge Kerle, auf ihren Auftritt vor. Anders als auf dem touristischen Calgary Stampede sitzt man in Oyen fast am Gatter. Einmal schlägt ein Bulle so hart dagegen, dass es mich an der Schulter erwischt und mich daran erinnert, besser keine Fotos durchs Gerüst zu machen.
Der Lokalmatador, ein Mittzwanziger namens Tanner Girletz und Spross einer alten Rodeofamilie, hat keinen guten Start, belegt am Ende aber den zweiten Platz. Dazwischen fliegen die Hufe, wirbelt der Staub. "Die Frage ist nicht, ob sich ein Bullrider verletzt, sondern wann", sagt ein Zuschauer neben mir. Die Jungs sind tatsächlich hart im Nehmen. Einer fliegt fünf Meter in die Luft, doch der Krankenwagen bleibt an diesem Tag auf dem Parkplatz.
Kunst in Empress (190 Einwohner)In den Badlands gibt es scheinbar nur Originale, manche übrig gebliebene Relikte einer größeren Zeit. Im Saloon des über 100 Jahre alten Patricia Hotel in Patricia stehe ich zwischen ausgestopften Bisons und bärtigen Gasarbeitern am Grill und brate mein Steak selbst. In Acadia Valley entdecke ich neben dem alten Getreideaufzug des Prairie Elevator Museum ein kleines Teehaus, das "Peach Creme Kuchen" auf der Speisekarte führt.
Und in Empress, einer kleinen Siedlung an der Grenze zur Nachbarprovinz Saskatchewan, spüre ich den weit und breit einzigen Espresso auf. Die hiesige Kunstgalerie "That's Empressive" entpuppt sich als Infobörse. "Willst du die Künstler kennenlernen?", fragt der Junge hinter der Theke und erklärt den Weg. Vor einer gewaltigen Staubwolke überquere ich einen breiten Hügelrücken und parke vor den Sagebrush Studios, einer grünen Oase mit drei hölzernen Kirchlein.
Dean und Fran Francis haben sie in Saskatchewan gekauft, stückweise hierher gebracht, restauriert und nutzen sie nun als Ausstellungsräume für ihre Landschaftsmalereien. Sogar aus Regina, der Hauptstadt von Saskatchewan, kommen die Kunden hierher, sagen sie.
Nostalgie in Orion (7 Einwohner)Seit 1954 betreibt Boyd Stevens seine Eisenwarenhandlung in Orion, einem Sieben-Seelen-Fleck im Nirgendwo. Die Geschäfte laufen zäh. Aber aufgeben? Niemals
Autofahren in den Badlands ist wie Meditation. Es gibt nur die leere Straße. Genieß mich, mein Lieber, von mir hast du doch immer geträumt, raunt sie mir zu. Am Highway 61 markieren schwarze Eisenrahmen mit Ortsnamen und Gründungsdaten die Stellen, wo einst Städte wie Legend und Altorado standen. Nicht einmal Fundamente sind mehr zu sehen. Nur ein paar Weiler existieren noch. In Etzikom finde ich ein schönes Windmühlenmuseum und in Manyberries das Southern Ranchmen's Inn, ein altes Roadhouse, Zimmer für rund 25 Euro, mit einem urigen Saloon und ramponiertem Mobiliar.
In Orion, sieben Einwohner, bleibe ich in Stevens Hardware & Garage hängen. Der Besitzer dieser Eisenwarenhandlung ist seit 1954 Boyd Stevens. Er lehnt am Türrahmen, blickt zu den Sweet Grass Hills drüben im US-Staat Montana hinüber und lächelt: "Hab wohl den letzten Zug verpasst." Das war 1959, als die Eisenbahn umgeleitet wurde. Seitdem versorgt Boyd die hiesigen Farmer mit Maschinenund Ersatzteilen. Doch in letzter Zeit ist es immer schwieriger geworden.
Die Händler im knapp 80 Kilometer entfernten Medicine Hat liefern billiger, und die in Kolonien in der Umgebung lebenden, streng religiösen Hutterer reparieren ihre Maschinen selbst. Zeit hat der rüstige 82-Jährige deshalb im Überfluss. Auf der Bank vor dem Store kommen wir ins Plaudern und reisen zurück in die Zeit, als in Orion noch über 100 Menschen lebten und als seine Mutter montags alles zum Leben Notwendige aus dem Versandkatalog von Eaton's bestellte und er am Freitag zum Bahnhof lief, um das Paket abzuholen. Boyd seufzt.
Letztes Jahr war er krank. "Die Schwestern wollten mich gleich ins Altersheim fahren. Sie sagten, da bräuchte ich nur ein paar Klamotten und sonst nichts. Ich sagte: "No." Boyd steht auf und geht zurück in seinen Store. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an das schummrige Licht gewöhnen. Der Raum ist vollgestopft mit Werkzeugen und Eisenkram. "Was soll aus alldem werden, wenn ich fortgehe?" Boyds Blick schweift über das grandiose Chaos, dann strafft er sich und grinst. "Jedenfalls nehme ich meine Plattensammlung mit. Vor allem Brenda Lee und Connie Francis!"
Die vor Urzeiten aufgefalteten Mud-Buttes-Hügel
An diesem Tag schaffe ich es noch bis nach Milk River. Nach dem Abendessen im Sandstone Motel fahre ich in den Writing-on-Stone Provincial Park und genieße von einer Anhöhe aus den Blick über Fluss, Canyons und offene Prärie hinweg auf die 2000 Meter hohen Sweet Grass Hills. Adler kreisen am Himmel, hinter mir grasen ein paar Gabelböcke. Ich denke immer langsamer und weniger. Als habe mein Hirn auf Stand-by geschaltet. "Empty your cup", sagt man in Nordamerika dazu. Nie ging das leichter als hier.