Irgendwo am Straßenrand, auf halbem Weg zwischen Jasper und Maligne Lake, ziehen wir uns bis auf die Unterwäsche aus. Jeans, Sweatshirts und Sneaker fliegen in den Kofferraum. Wir quälen uns in grau-gelbe Gummianzüge, steigen in Kletterschuhe und -gurte und setzen Helme mit Stirnlampen auf. Im Jasper National Park liegt Schnee. Es ist kalt, doch luft- und wasserdicht verpackt schwitzen wir schon jetzt. Wir steigen über die Leitplanke und stapfen einen steilen Hang hinauf. Ein vorbeikommendes Auto drosselt das Tempo. In unserer Canyoning-Ausrüstung fallen wir auf.
In Europa längst etabliert, ist der Sport in Kanada noch relativ neu. Auch Joe Storms betreibt seine Rocky-Mountain-Canyoning-Touren erst seit Kurzem. Wir beeilen uns, mit dem drahtigen Mann Schritt zu halten. Storms ist in Form - kein Wunder: Hauptberuflich ist er Ranger im Jasper National Park. Heute will er uns durch den Two Valley Canyon leiten: "Es ist eng da unten, Wasser rauscht, es ist laut, kalt und stockduster. Das ist nicht nur ein tolles Erlebnis, das Ganze ist auch ein Test für eure Psyche!"
Unbekannte Welt aus grauem Stein
Wir klettern über umgestürzte Bäume und stolpern durch dicht verästeltes Unterholz. Dann liegt der Eingang zum Two Valley Canyon vor uns. Er ist eher unspektakulär. Die Gates of the Canyon sind zunächst nichts weiter als eine harmlose kleine Schlucht, in die wir mühelos freihändig absteigen. Doch der zweite Blick offenbart, was uns nun erwartet.
Unter schneebedeckten Stapeln kreuz und quer liegender Baumskelette hindurch fließt der Two Valley Creek auf ein mächtiges, rund 50 Meter hohes Felsentor zu. Nur drei, vier Meter breit ist die Schlucht am Boden. Über unseren Köpfen hängen vom vorigen Sturm entwurzelte Bäume in prekären Schräglagen.
Unsicher einen Fuß vor den anderen setzend, verlassen wir die Welt, die wir kennen und betreten eine unbekannte Welt aus grauem Stein. Bleiben die Bäume über uns, wo sie sind? Wackeln die Steine, auf die wir treten müssen? Halten die Schneehauben über dem Creek? Und wie glitschig sind die Felsplatten, wie tief die kleinen, dunklen Pools in den Biegungen des Bachs?
Der Himmel ist nur noch als handtuchbreiter Streifen erkennbar. Über den Berg zurück geht es jetzt nicht mehr. Zum Auto gibt es nur noch diesen einen Weg. Storms spaziert mit traumwandlerischer Sicherheit durch diese uns anderen völlig fremde Topografie. "Alles klar?" ruft er über die Schulter. Er ist in seinem Element. Und seine Begeisterung steckt an. Yes, alles klar, let's go - wir wollen sehen, wie es hinter der nächsten Biegung aussieht!
Die Welt im Schein der Stirnlampen
Wir meistern die ersten meterhohen Felsklötze, rutschen die Rinnen hinab, denen der Two Valley Creek talwärts folgt, und landen mit beiden Beinen in den hüfthohen, eiskalten Pools darunter. Für Anfänger wie uns ist das zunächst nervenaufreibend, aber schon nach dem ersten Mal ist zumindest jeder Zweifel an der Verlässlichkeit der Gummianzüge zerstreut.
Eine Weile macht sich Euphorie breit. Wir genießen die Stille im Canyon, halten einige Male an, um die letzten Sonnenstrahlen zu beobachten, und studieren schaudernd die makellos glatten Biegungen, die der Two Valley Creek während der vergangenen Hunderttausend Schneeschmelzen aus dem Fels gewaschen hat.
Dann wird es dunkel in der Schlucht. Und eiskalt. Unsere Welt reduziert sich auf den Schein der Stirnlampen. An zwei bis drei Meter hohen Felsstufen lernen wir das Abseilen: rückwärts an die Felskante, dann zum Seil greifen und sich von der Wand weg Richtung Abgrund stemmen. Das ist nicht leicht, weil es gegen jeden Instinkt geht und bedingungsloses Vertrauen in Mensch und Material voraussetzt. Dann langsam, die Beine weiter gegen die Wand gestemmt, steigen wir Meter um Meter hinab. Unmittelbar neben uns schießt der Fluss talwärts. Von Kälte und Schwärze umgeben, sind wir hochkonzentriert bei der Sache.
Adrenalingeladene Minuten
Sechs oder sieben dieser Stufen meistern wir, doch dann, gegen Ende der Tour, stehen wir plötzlich vor einem 14 Meter tiefen Abgrund. Der Two Valley Creek rauscht jetzt ohrenbetäubend. "Jetzt genau zuhören", brüllt Storms. Auf halbem Weg nach unten macht der schachtähnliche Abgang eine Kurve, sodass wir den Boden nicht sehen können. "Haltet euch so weit wie möglich links und lehnt euch so weit wie möglich nach hinten", ruft Storms. "Wenn ihr das nicht tut, verliert ihr den Halt und baumelt den Rest des Wegs im Wasserfall!"
Eine adrenalingeladene Minute später landen wir am Boden des Schachts - in einem hüfttiefen Becken. Einer von uns rutscht beim Abwärtsgehen auf dem glitschigen Felsen aus, fällt gegen die Wand und gerät in den Wasserfall. Doch dank des Gummianzugs kommt außer seinem Stolz nichts zu Schaden.
Es ist 22.30 Uhr, als wir den Two Valley Canyon nach viereinhalb Stunden wieder verlassen. Wie Seebären beim ersten Landgang nach Monaten auf See wanken wir geschafft über die Straße . "Seid ihr okay?", fragt Storms und lacht in die Runde. Alles okay! Der Ausflug in den Keller der Rockies hat unsere Sinne geweckt und Muskeln, die wir schon vergessen hatten, wieder aktiviert. Und: Wildromantisch war es auch.