Wenn Linda* um 17 Uhr die Haustür hinter sich zufallen lässt und sich auf dem Sofa einigelt, beginnen ihre Gedanken zu kreisen. Sie denkt dann, sie sei nichts wert, könne nichts, sei unattraktiv. Das einzige, was ihr gegen die endlose Negativspirale hilft, sagt sie, sei Ablenkung: Sie sitzt an Puzzlen mit Tausenden Teilen, malt Bilder mit einer Ausmal-App auf dem Handy, stickt, hört Podcasts, schaut nebenbei YouTube-Videos von Komiker Torsten Sträter. Wenn sie sich abends ins Bett legt, erzählt Linda, schraubt sie sich oft mit Lektüre, autogenem Training oder Selbsthypnose in den Schlaf. Ohne kann sie nicht. "All das holt mich aus meinem Kosmos raus, der sehr düster ist", sagt sie. Am nächsten Morgen steht sie mit dem vierten Weckerklingeln gegen sechs Uhr auf, springt unter die Dusche und fährt zur Arbeit.
Linda ist 31 Jahre alt, trägt eine schwarze, kastige Brille und schwarz-rot gefärbte, schulterlange Haare. Sie lebt im bayerischen Murnau und arbeitet in der Hotline eines Autoherstellers. Ihre Vierzimmerwohnung teilt sie sich mit ihrem Freund, ihrer Katze und am Wochenende mit den beiden Söhnen ihres Freundes. Ihr Lebenslauf ist lückenlos. Keine Pause. Vermeintlich nichts deutet darauf hin, dass Linda depressiv ist.
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Pro Jahr erkranken rund acht Prozent der Menschen in Deutschland an einer Depression, etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann ist im Laufe des Lebens betroffen. "Typischerweise verläuft die Depression in Episoden", sagt der Psychiater Prof. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. "Die depressive Phase schleicht sich über Wochen oder Monate ein und hält unbehandelt dann meist zwischen vier und neun Monaten an, manchmal auch länger." Daneben gibt es noch eine andere Diagnose: die Dysthymie, eine leichtere, aber chronische Form der Depression. Sie beginnt meist im frühen Erwachsenenalter und zieht sich mitunter durch das ganze Leben. "Diese Menschen sind oft noch im Beruf und kriegen das irgendwie auf die Reihe - allerdings mit sehr großem Verlust an Lebensqualität", sagt Hegerl.
Lindas Krankheitsgeschichte beginnt in ihrer Kindheit. Ein Psychiater diagnostiziert sie als bipolar - eine psychische Erkrankung, bei der sich depressive mit manischen Phasen abwechseln. Als Linda 21 Jahre alt ist, hat sie ihren ersten Zusammenbruch. Sie betrinkt sich, denkt daran, sich selbst zu verletzen. Kurz zuvor hatte sie nach einer zu spät eingereichten Krankschreibung eine Abmahnung von ihrem Arbeitgeber im Briefkasten gefunden. "Für mich ist in dem Moment eine Welt zusammengebrochen. Der einzige Zufluchtsort, meine Arbeit", sagt Linda. Mit ihren Suizidgedanken vertraut sie sich ihrem Hausarzt an. Fünf Tage später weist sie sich in die Psychiatrie ein und wird dort als depressiv diagnostiziert, bleibt aber nur sechs Wochen - weil ihre Krankenkasse den Aufenthalt nicht länger bezahlt, erzählt sie.
Ich hatte eine Maske auf mit einem unglaublich breiten Grinsen. Und hinter dieser Maske war ich am Heulen. LindaIhre Mutter, ihr Bruder und ihr Stiefvater, mit denen sie bis zu diesem Zeitpunkt zusammenlebte, ahnten nichts von ihrer Erkrankung. "Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, habe ich jedes Mal mit einem Lächeln erzählt, wie gut alles gelaufen ist und wie super es mir geht", erzählt Linda. "Ich hatte eine Maske auf mit einem unglaublich breiten Grinsen. Und hinter dieser Maske war ich am Heulen." Statt um ihre eigenen Sorgen kümmert sich Linda um die ihrer alleinerziehenden Mutter, die nachts regelmäßig von Heulattacken geschüttelt wird, weil ihr der Alltag über den Kopf wächst: die schlechten Noten des Sohnes, die cholerischen Anfälle ihres Partners und der eigene Job, mit dem sie die ernähren muss. "Ich wollte ihr meine Probleme nicht auch noch aufbürden", sagt Linda. Also ist sie diejenige, die immer für alle da ist. In der Familie wird ihre Krankheit auch heute noch totgeschwiegen - was Linda mittlerweile akzeptiert hat.
Nach ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie versucht sie weiter, ein normales Leben zu simulieren. Seit mehr als zehn Jahren lebt Linda mit Depressionen. Mal besser, mal schlechter. In den vergangenen Jahren hat sie oft ihren Job gewechselt. Davor arbeitete sie lange 40 Stunden die Woche als Steuerfachangestellte, an den Wochenenden jobbte sie bis sechs Uhr morgens in einer Bar. "Solange Menschen um mich rum waren, spürte ich meine Depression kaum", sagt sie. "Ich habe deren Emotionen unterbewusst gespiegelt, weil ich selbst keine hatte." Für Linda heißt das: Wenn ihr Gegenüber gute Laune hat, zeigt sie sich auch gut gelaunt. Obwohl innerlich komplette Leere ist.
Eine "hochfunktionale Depression" gibt es nicht, sagt der ExperteVor fünf Jahren lernte sie in eben dieser Bar ihren heutigen Freund kennen. Als sie nachts weinend bei sich zu Hause auf dem Sofa kauert, vertraut sie sich ihm über eine Textnachricht an. Damals nähern sich die beiden gerade erst an. Ihr Freund, sagt Linda, habe selbst immer wieder depressive Phasen und habe sofort gewusst, wie sie sich fühle. Und auch, wie er ihr helfen kann. Manchmal, wenn die Depression Linda in "einen dunklen, engen Raum ohne Fenster" stürzt, schafft nur er er es, sie dort herauszuholen. Er nimmt sie dann lange in den Arm, bis sich ihr Körper entkrampft oder entlockt ihr mit albernen Sprüchen ein Lächeln. Auch Sex helfe ihr, sagt sie, weil er ihr Selbstwertgefühl hebe. Linda und ihr Freund wissen voneinander, wann sie Nähe und wann Freiräume brauchen. "Ich weiß genau: Wenn ich falle, fängt er mich auf", sagt sie.
Eine Therapie macht Linda derzeit nicht, auch die Antidepressiva hat sie nach ihrem Klinikaufenthalt 2011 abgesetzt. Nachdem sie nach ihrem Zusammenbruch mit Psychopharmaka und dem Medikament Tavor regelrecht ruhiggestellt worden sei und sich selbst nicht mehr wiedererkannt habe, habe sie das Vertrauen in Psychiater*innen verloren, sagt sie.
Es gibt Menschen, die mit allerletzter Kraft die Fassade hochhalten. Und wenn sie zu Hause sind, kippen sie um und fallen ins Bett. Prof. Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche DepressionshilfeAuf Lindas Arbeit wissen nur die allerwenigsten von ihrer Depression. Ihren Vorgesetzten hat sie bisher noch nie davon erzählt. Zu laut war die Angst, ausgelacht zu werden, wenn sie um Zeit für Arzttermine wegen ihrer Depression bitten würde. In ihrer jetzigen Firma, in der sie erst seit wenigen Wochen arbeitet, wird offener mit dem Thema umgegangen. Dort habe ein Kollege eine Auszeit wegen Burn-out genommen und sei vom Chef dabei unterstützt worden, erzählt Linda. Für sie ein kleiner Lichtblick.
Im Zusammenhang mit Menschen wie Linda wird immer wieder von einer "hochfunktionalen Depression" gesprochen. "Das gibt es nicht", sagt Prof. Hegerl entschieden, "aber es gibt Menschen, die mit allerletzter Kraft die Fassade hochhalten und immer noch den Alltag bewältigen. Und wenn sie zu Hause sind, kippen sie um und fallen ins Bett."
Auch Ella, die eigentlich anders heißt, kann ihre Depression viele Monate lang vor der Außenwelt verstecken. Die 18-Jährige lebt bei ihrer Mutter in der Nähe von München und hat in diesem Jahr das Abitur gemacht. Nachmittags arbeitet sie seit rund drei Jahren fast jeden Tag in einem Hotel mit Ferienwohnungen, kümmert sich um Rechnungen und Buchungen, kontrolliert, ob die Zimmer sauber sind. Auch am Wochenende. Die Arbeit, sagt sie heute, habe sie abgelenkt.