Die Schönheitsindustrie bereitet sich auf einen riesigen Trend vor: Männer, die sich schminken. Denn eine Generation junger Männer hat keine Angst mehr vor Make-up.
Ein Schminktipp vom Männermagazin Men's Health klingt so: "Wenn du willst, dass dein Make-up unentdeckt bleibt, sollte die Foundation keine Glitzerpartikel enthalten und nicht stark mattieren. Beides lässt die Haut unnatürlich wirken - und genau das willst du ja nicht." Schminken, na gut - aber bitte unauffällig.
Wer das Tabu um Männerkosmetik beobachten möchte, muss eigentlich nur in eine x-beliebige Drogerie spazieren: Vorbei an den bunt schimmernden Aufstellern von L'Oréal, Max Factor und Catrice, rein in die schwarz-blau-grüne Ecke mit Bulldoggen-Logos und Superman-Vibe. Nach der Mode werden in kaum einem anderen Wirtschaftszweig Geschlechterstereotype so konsequent bedient wie in der Kosmetikbranche. Rasierer für Frauen sind pink, Rasierer für Männer blau. Shampoo für Männer riecht nach Hopfen, Shampoo für Frauen nach Vanille. Damit sich bloß keine Frau in den falschen Regalen vergreift, sind Produkte für Männer zur Sicherheit mit dem Attribut Men gelabelt. Im DM, der größten europäischen Drogeriekette, heißt die Männerecke "Seinz" - sie führt neben Bartpflege und Axe-Deos auch Handwaschpasten, auf denen das Logo der Baumarktkette Hornbach abgebildet ist.
"Männer sollen irgendwie auch Männer bleiben." Barbara Schöneberger, Moderatorin
Im vergangenen Oktober wirbelte die Moderatorin Barbara Schöneberger mit einem Instagram-Video auf dem Account ihres Frauenmagazins einen Shitstorm auf, als sie sagte: "Männer sind Männer, Männer sollen irgendwie auch Männer bleiben. Und deshalb: Bitte nicht schminken, auch nicht die Augenschatten abdecken." Innerhalb einer Woche stapelten sich unter dem Video fast 800.000 Kommentare. Viele fanden Schönebergers Meinung doof, gestrig, intolerant. Und schnell wurde aus der unsensibel in die Welt geblasenen Meinung eine Debatte über die Neudefinition von Männlichkeit. Im Wust von Cancel-Culture und Solidaritätsbekundungen hatte man Zeit genug, um sich zu fragen: Wo fängt das Imageproblem von Männerschminke eigentlich an - und wo hört es auf?
Mitten im Mainstream verschiebt sich gerade, was es bedeutet, Mann zu sein. Die Akzeptanz für eine fluide Männlichkeit wächst: Für viele ist nicht mehr der Rede wert, wenn Ex-Fußballer David Beckham mit grünem Lidschatten auf dem Cover eines Magazins zu sehen ist oder Schauspieler Ezra Miller im Kleid und mit avantgardistischem über den roten Teppich schreitet. Vergangenes Jahr ging ein Werbevideo des Rasierklingenherstellers Gillette viral, in dem toxische Männlichkeit angeklagt wird. Im selben Jahr gab in einer US-amerikanischen Umfrage ein Drittel der unter 45-Jährigen an, dass sie es sich vorstellen könnten, sich zu schminken. Und im April, mitten in der Corona-Krise, stiegen die Internetsuchanfragen nach " male makeup looks" um 80 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, was der britische Guardian auf eine "Zoom-Fatigue" zurückgeführte, eine Ausgezehrtheit aufgrund von zu vielen Onlinekonferenzen, die auch Männern müde Augen macht. Warum also nicht ein bisschen mit Schminke nachhelfen?
"Mit Make-up sehe ich einfach fresher aus." Can Günaydi, YouTuberCan Günaydi war 17 Jahre alt, als er begann, heimlich das Make-up seiner Mutter zu benutzen, um seinen Rasurbrand zu kaschieren. Am Anfang sei das noch komisch gewesen, erzählt er, heute gehören Tuben und Pinsel zu seiner täglichen Morgenroutine. Ein bisschen Concealer zum Abdecken der Augenringe und Rasierpickelchen, Puder zum Mattieren, gegen die Blässe noch eine Spur Bronzer auf die Wangen und die Augenbrauen werden auch aufgefüllt. "Ich fühle mich auch ungeschminkt wohl, aber mit Make-up sehe ich einfach fresher und ausgeschlafener aus", sagt Can, den viele als den YouTuber "JustCaan" kennen. Nachdem er von seiner Community online immer wieder darauf angesprochen worden war, ob er sich schminke, hat er sich im vergangenen Jahr in einem Video vor seinen 500.000 Abonnenten zum ersten Mal öffentlich darüber geäußert. Wo er seinen Zuschauern sonst aufwendig inszenierte Pranks und Beichtvideos liefert, sprach er in Warum Ich Make Up trage... über Abdeckstifte, die Farbe Rosa und Geschlechterklischees. "Ich hatte ein flaues Gefühl, aber das Feedback in den Kommentaren war ziemlich positiv und ermutigend", sagt er. Eine größere Überwindung sei es gewesen, als Mann zum ersten Mal eine Douglas-Filiale zu betreten und zu fragen: "Hey, Freunde, ich brauch Make-up. Könnt ihr mich bitte beraten?"
Wer sich vorstellen möchte, wie sich Männer-Make-up in den kommenden Jahren entwickeln könnte, sollte das schwarz-pinkfarbene Universum parfümierter Drogerien hinter sich lassen. Ein Blick nach Asien lässt die Zukunft erahnen: In Südkorea wurden die Grenzen stereotyper Männlichkeit spätestens durch die nonbinäre Ästhetik des K-Pop gesprengt. K-Pop ist ein Musikgenre, das sich aus japanischem und koreanischem Pop, Rap und Eurodance bedient. Auch auf ästhetischer Ebene will sich K-Pop nicht festlegen. Dass die Mitglieder der K-Pop-Boyband BTS mit Lipgloss, Rouge und Wimperntusche auf der Bühne stehen, ist deshalb nicht überraschend. BTS haben fast 30 Millionen Instagram-Follower und weit mehr als eine Milliarde Klicks auf YouTube. Auf der ganzen Welt himmeln sie Fans an und verfolgen nicht nur ihre Musik, sondern auch die Kosmetikprodukte, die sie verwenden.