Kernfamilie, kochen, ausmisten: Corona bedeutet den Rückzug ins Private. Werden wir jetzt alle zu Spießern? Ein Gespräch mit der Soziologin Michaela Pfadenhauer
Während des Corona-Lockdowns haben sich die Menschen überall auf der Welt ins Private zurückgezogen, Konzerte gestreamt, Schubladen ausgemistet und Zeit mit der sogenannten Kernfamilie verbracht. Feiern, ausgehen, polyamore Beziehungen leben - all das ist auch nach den ersten Lockerungen noch schwierig. Belohnt die Corona-Krise konservative Lebensmodelle und diskriminiert die Unangepassten? Die Soziologin Michaela Pfadenhauer von der Universität Wien blickt auf die vermeintliche Rückkehr zu "alten Werten" in der Krise und erklärt, was sie daran für problematisch hält.
ZEIT Campus Online: Frau Pfadenhauer, viele von uns haben sich in den letzten Monaten zu Hause zurückgezogen, den Sauerteig gefüttert, Pamela-Reif-Work-outs gemacht und jeden Abend um Punkt 20 Uhr die tagesschau verfolgt. Hat uns Corona zurück in die Zeit des Biedermeier geschubst?
Pfadenhauer: Ich finde diesen Begriff treffend - auch, wenn die sozialen, kulturellen und politischen Voraussetzungen zur Zeit des Biedermeier natürlich andere waren. Die Epoche des Biedermeier Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts war geprägt von Häuslichkeit, einer Freude an Genuss und Idylle. Auch während der Corona-Krise war der Rückzug ins Private sehr auffällig, wenn er auch heute eng mit der Nutzung der digitalen Medien verbunden ist. Mit den Lockerungen scheint sich unser Alltag aber Stück für Stück wieder zu normalisieren.
Nachtleben in der Corona-Krise Abstand halten? Beim Tanzen unmöglich Clubszene "Wir haben den wirtschaftlichen Ruin selbst noch beschleunigt" David Süß "Es bricht mir das Herz, dass ein Lebenswerk im Nichts verschwindet"ZEIT Campus Online: Das klingt so, als würde uns die Corona-Krise zumindest nicht nachhaltig zu Spießern machen.
Pfadenhauer: Die gesellschaftliche Entwicklung kann man sich als eine Pendelbewegung zwischen Freiheit und Sicherheit vorstellen. Die Bewältigung der Corona-Krise hat das Pendel ganz stark in Richtung Sicherheit ausschlagen lassen. Um den Preis der individuellen Freiheit mussten wir in den vergangenen Wochen Sicherheit schaffen, indem wir die Ansteckungsgefahr minimieren. Für den Großteil der Bevölkerung war klar: Wenn wir keine Menschenleben gefährden wollen, gibt es keine Alternative zur Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Reisefreiheit. Die entscheidende Frage wird sein: Inwiefern schlägt das Pendel wieder zurück?
ZEIT Campus Online: Unter den Kontaktbeschränkungen in den letzten Monaten haben vor allem diejenigen gelitten, die nicht in konventionellen sozialen Strukturen leben. Waren die Lockdown-Regeln zu sehr auf die Kernfamilie ausgelegt?
Pfadenhauer: Im Lockdown war jede Lebensform benachteiligt, die nicht dem klassischen Mutter-Vater-Kind Kleinfamilienmodell aus den Fünfzigerjahren entsprach. All die Beziehungsmodelle, die von der Kernfamilie abwichen - zum Beispiel Patchworkfamilien oder Menschen in Fernbeziehungen - sind da rausgefallen und auch öffentlich so gut wie nicht thematisiert worden. Wir sind zurückkatapultiert worden in Zeiten, in denen es unvorstellbar war, dass ein unverheiratetes Paar unter einem Dach wohnt. Dementsprechend würde ich sagen: Die Kontaktbeschränkungen sind und waren absolut unzeitgemäß. Damit ist aber nicht gesagt, dass sie falsch waren oder man alles anders hätte machen sollen.
ZEIT Campus Online: Hätten Sie einen Alternativvorschlag, der Menschen ohne Kernfamilie weniger benachteiligt hätte?
Pfadenhauer: Es hätte sich zum Beispiel jeder oder jede auf einen stabilen sozialen Kreis begrenzen können. Das kann nicht der gesamte Uni-Chor sein, sondern ein paar wenige Freunde, nach dem Motto: Entscheide du, wer deine Familie ist! Eine solche Handhabe hätte sicherlich weniger Probleme mit Einsamkeit, häuslicher Gewalt oder Depression hervorgebracht. Und sie hätte uns als Gesellschaftsmitglieder des 21. Jahrhunderts zeitgemäßer adressiert. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dieser Vorschlag Kritik von Expertinnen und Experten standgehalten hätte.
ZEIT Campus Online: Was spricht dagegen?
Pfadenhauer: Diese Handhabe ist sicherlich schwerer zu kommunizieren. Krisenkommunikation muss einfach, klar und ausnahmslos sein. Sie darf keine Interpretations- oder Handlungsräume eröffnen. Trotzdem ist es sinnvoll, darüber nachzudenken - es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir nochmal in eine vergleichbare Situation kommen.