In Lettland mehrfach preisgekrönt deckt der Roman „Flut“ von Inga Ābele in rückwärts gerichteter Erzählweise Schritt für Schritt auf, in welcher Situation sich Protagonistin Ieva befindet. Einer archäologischen Ausgrabung ähnelnd dringt die Geschichte schichtweise immer tiefer vor.
Ievas Liebhaber Aksels ist tot und ihr Exmann Andrejs erst seit Kurzem wieder aus dem Gefängnis entlassen. Dort hatte er wegen Mordes seine Strafe verbüßt. Ein Zusammenhang scheint zunächst auf der Hand zu liegen, doch das zentrale Ereignis in Ievas Leben ist sehr viel komplexer als ein Gewaltverbrechen aus Eifersucht.
Autorin Inga Ãbele erzählt die Geschichte der lettischen Frau in Rückblenden und in weitgehend umgekehrt chronologischer Reihenfolge. So offenbart sie allmählich und in verschiedenen Formen, in Erzählung, Briefwechseln und Dialogen, wie Ieva zu der unabhängigen und reflektierten, sich und ihr Umfeld beständig infrage stellenden Frau in ihrer Lebensmitte wurde, die sie zu Beginn des Buches ist. Von der Gegenwart der Protagonistin als erwachsene Frau bis in die Kindheit bei der Großmutter, die Ieva „Lieboma“ nennt, fokussiert die Erzählung Ievas wichtigste Lebensstationen und ihre Mitmenschen.
„An jedem neuen Ort bildet sich nach einer gewissen Zeit ein Grüppchen ihr nahestehender Menschen, ein annähernd gleiches wie zuvor. Zu ihm gehören ein Guru, ein Liebhaber, jemand, den sie verraten wird, jemand, der sie verraten wird, ein Feind sowie Freunde zum Plaudern, um die eigene und deren Psyche zu kurieren und kein Geld für einen Therapeuten aus dem Fenster werfen zu müssen.“
Gegen den Strom
Ieva ist schon als junge Frau unangepasst. Sie entzieht sich immer wieder den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Erwartungen, die an sie gestellt werden. So nutzt sie eine Reise ihres Schulchors dazu, sich davonzustehlen und eigene Erkundungen zu machen. Sie fühlt sich zu Menschen hingezogen, die sich ebenfalls nicht an Konventionen gebunden fühlen. Dies führt auch zur frühen Ehe mit Andrejs, mit dem sie jedoch nicht lange glücklich ist und den sie schließlich zusammen mit der gemeinsamen Tochter Monta für Liebhaber Aksels verlässt. Ihre Spontanität und Leidenschaft führen Ieva immer wieder in schwierige Situationen. Das lässt sie im Laufe der Zeit unnahbar und introvertiert wirken, vor allem für Männer, die an ihr Interesse zeigen.
‚Du bist eine rundum tolle Frau. Warum fügst du, wenn du eine Geschichte erzählst, am Ende immer hinzu, dass sie eigentlich anders sein sollte? Entscheidet denn jemand anders an deiner Stelle? Und wenn nicht, warum handelst du dann nicht nach deinem Dafürhalten? Es scheint so, als würdest du dieses Leben leben und dabei die ganze Zeit an ein anderes denken. Deshalb frage ich dich – bist du glücklich in deinem Leben?‘ Gott sei Dank klingelt Ievas Mobiltelefon, und sie gewinnt Zeit für die Antwort.
Neben dem Geliebten Aksels und dem Ehemann Andrejs ist ihr Bruder Pāvils eine wichtige Konstante in Ievas Leben. Pāvils versucht, die Innenwelten seiner Schwester nachzuvollziehen, konfrontiert sie aber auch mit den Auswirkungen, die ihr Handeln auf ihr Umfeld hat,
„’Es ist viel Zeit vergangen, seit ich sehr in mir war. Untrennbar von mir. Ich war alles, was ich tat.' 'Erinnerst du dich, dass du dir mal die Pulsadern aufgeschnitten hast?' 'Ja, ich erinnere mich. Das war ziemlich schlimm.' 'Ziemlich schlimm? Weißt du was, du bist viel zu milde. Es war entsetzlich! Da war dieser verfluchte Regen, das schwarze Wasser goss sämtliche Fenster, Scheinwerfer und Straßen zu. Mami hat dich ins Krankenhaus gebracht ... In Wirklichkeit war es ein Albtraum.' 'Ich war sehr in mir. Aber jetzt ist es noch schlimmer.‘“
Kaleidoskop unterschiedlicher Sichtweisen
Die Dialoge und auch die früheren Briefwechsel zwischen Ieva und Pāvils sind in ihrer Offenheit eine Ausnahme: In keiner der anderen Beziehungen gelingt es den Beteiligten, die eigenen Gefühlswelten und Beweggründe für ihre Handlungen in Worte zu fassen. Sprachlich unterscheiden sich die Kapitel in Ton und Erzählperspektive stark voneinander. Inga Ābele passt beides der Person an, die jeweils gerade im Mittelpunkt steht, oder aus deren Perspektive erzählt wird.
In den privaten Erlebnissen und Erfahrungen Ievas und ihres Umfelds spiegelt sich auch ein Teil der jüngeren politischen Geschichte Lettlands wider – etwa die Zeit der sowjetischen Besatzung und die darauffolgende Unabhängigkeit des Landes seit den 1990er Jahren.
Im anhängenden Glossar erklärt Übersetzer Matthias Knoll nicht nur die Begriffe des Buches, die keine passende deutsche Entsprechung haben. Er erläutert auch viele kulturelle, politische und gesellschaftliche Hintergründe.
„Flut“ ist kein Buch, das sich schnell oder gar nebenher liest. Es verlangt Konzentration und auch Geduld: Der Spannungsbogen insbesondere um die Ereignisse, die zu Aksels Tod führen, entwickelt sich langsam und bleibt dabei sprunghaft. In ihrer zeitlich umgekehrten Erzählweise, die auch nicht zu Ievas Gegenwart zurückkehrt, bleiben die Verbindungsstücke der einzelnen Fragmente unverknüpft. Erst nach und nach enthüllt die Geschichte mit ihrem ungewöhnlichen Aufbau und der poetischen Sprache der Autorin die inneren Konflikte ihrer Hauptperson. Deren Handeln und Persönlichkeit werden immer greifbarer und nachvollziehbarer. Und aus den einzelnen Kapiteln, von denen eigentlich jedes für sich eine ganz eigene Kurzgeschichte in einer ganz eigenen Sprache sein kann, setzt sich Ievas Leben zusammen.
Inge
Ābele: "Flut"
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll
Kommode Verlag, Zürich, 496 Seiten, 24 Euro.
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