Nina Himmer

Freie Journalistin, München

11 Abos und 34 Abonnenten
Artikel

Unterwegs mit einem Steinesucher

Walter Ungerank durchstreift seit Jahrzehnten das Tiroler Zillertal auf der Suche nach besonderen Mineralien. Unterwegs mit einem, der längst selbst zum Urgestein geworden ist.


„Da schau", sagt Walter Ungerank, schiebt die roten Ärmel seines Hemdes nach oben und streckt die Arme aus: „Gänsehaut!" Wie ein winziges Geröllfeld erstreckt sie sich über seine sonnenbraunen Unterarme, ihrem Auslöser am gegenüberliegenden Berghang nicht unähnlich. Dort hat der Gletscher Geröll freigegeben, die einst meterdicken Eisschichten sind verschwunden. „Als ich noch jung war, reichte das Waxeggkees noch bis da runter zum Bergfuß", sagt Ungerank und deutet mit einem seiner Wanderstöcke auf einen Punkt in der Ferne. Eine Geste, die er an diesem Tag noch oft wiederholen wird.

Walter Ungerank - drahtige Statur, weißer Bart, freundliche Grübchen - hat eine Menge zu zeigen und zu erzählen. Seit seinem zehnten Lebensjahr durchstreift er auf der Suche nach besonderen Mineralien die Zillertaler Alpen. Damals nahm ihn ein Freund seines Vaters mit in die Berge, zeigte ihm funkelnde Kristalle und brachte ihm bei, wie man Steine liest. Mittlerweile ist er 72 Jahre alt und hat nicht nur wertvolle Schätze im Keller seines Hauses, sondern auch einen ebensolchen Fundus an Wissen angehäuft. „Das Zillertal ist geologisch extrem spannend", sagt er, während er mit gleichmäßig festen Schritten an der Berliner Hütte vorbei hinauf in Richtung Schwarzsee stapft. Das habe vor allem mit der Entstehungsgeschichte der Region zu tun: Vor rund 120 Millionen Jahren prallten dort, wo heute Berge emporragen, die afrikanische und die eurasische Kontinentalplatte aufeinander. Unter enormem Druck und großer Hitze schoben sich die Gesteinsmassen übereinander, brachen ab und falteten sich in die Höhe. Selbst tiefe Gesteinsschichten aus dem Erdinneren fanden so den Weg an die Oberfläche. „Im Zillertal ist die Erde quasi einmal umgekrempelt", sagt Ungerank. Was einst bis zu dreißig Kilometer unter der Oberfläche verborgen war, ragt nun in den Himmel. Das erklärt den Mineralienreichtum der Gegend und hat eine Art Schaufenster zu den tiefen Erdschichten geschaffen - daher auch die geologische Bezeichnung „Tauernfenster".

Für Geologen, Mineralogen und Sammler ist das Zillertal eine Art Mekka. Funde von dort lagern von London bis New York in den wichtigsten Museen der Welt. Almandin, Grossular, Bergkristall, Diopsid, Amethyst, Gold, Rauchquarz, Vesuvian - weit über 200 verschiedene Mineralienarten gibt es in der Region. „Das da zum Beispiel", sagt Ungerank und klopft - klack, klack - zweimal mit dem Wanderstock auf einen Felsen am Wegesrand, „ist Hornblende". Das Mineral kommt meist in Form von schwarzgrünen, dunkelbraunen oder schwarzen Kristallen vor, die wie feine dunkle Kratzer im Gestein eingeschlossen sind. Wer das Muster einmal bewusst wahrgenommen hat, sieht es im Zemmgrund häufig. Ungerank aber ist auf der Suche nach etwas anderem, lässt den Blick suchend über den Boden schweifen und bückt sich schließlich. „Das ist Granat", sagt er und öffnet die Hand, in der drei kleine rostrote Steine schimmern, kaum größer als Kaninchenköttel.

Was auf den ersten Blick wenig beeindruckend wirkt, ist das wohl berühmteste Mineral des Zillertals. Man kennt es auch als Karfunkelstein oder „Edelstein des kleinen Mannes". Steinklauber haben es früher in Bergwerken abgebaut, deren Reste man zum Beispiel in Gunggl, Stillup und nahe der Berliner Hütte noch sehen kann. Auch die runden Steinchen, die Walter Ungerank nun durch die Finger rieseln lässt, stammen aus dieser Zeit: Es sind Überreste von in Mühlen getrommelten Granatkristallen, die auf diese Weise vom Muttergestein gelöst wurden. Zunächst verwendete man sie als Feuersteine für Flinten, später eher als Schmuck und Dekoration. Noch heute schmücken sie traditionelle Trachtenkleider oder glitzern an Handgelenken und Hälsen. „Aus Gesteinsuntersuchungen wissen wir, dass der Zillertaler Granat rund 50 Millionen Jahre und sein Ausgangsgestein sogar 500 Millionen Jahre alt ist", sagt Ungerank, hält kurz inne und kratzt sich am Bart. „Das ist doch wahrlich gewaltig", sagt er, mehr zu sich selbst als zu seinen Besuchern.

Inzwischen steht die Sonne hoch am Himmel, Schweißperlen rinnen von roten Köpfen. Ungerank aber läuft unbeirrt weiter, seine Wanderstöcke sausen durch die Luft: „Dort wurde früher Asbest abgebaut" sagt er und zeigt den Hang hinauf, „da oben liegt eine berühmte Kristall-Fundstelle und in dem Bächlein hier vor unseren Füßen, das Grüne da", - klack klack - „das könnte Diopsid sein". Er fischt den besagten Stein aus dem Wasser, schaut ihn kurz an, wirft ihn zurück. Wie das meiste, was man hier oben findet, ist er ohne großen Wert. Über echte Edelsteine stolpert man nicht auf Wanderwegen. Um sie aufzustöbern, braucht es Geduld und Gespür, Erfahrung und das Wissen, Steine zu lesen: Wo laufen weiße Quarzadern durch den Granit? Welchen Linien sollte man folgen, wo laufen sie zusammen? Wo weisen sie den Weg zu Kristallen? Lohnt es sich, hier etwas Schiefer abzuschlagen oder dort eine Spalte aufzuklopfen?

Walter Ungerank hat an vielen Hängen in der Gegend buchstäblich jeden Stein umgedreht, in jede Höhle und Ritze geschaut. Er hat sich in Wasserfällen abgeseilt und Flussbetten durchsucht, ist Wände hochgeklettert, hat Gletscher gequert und einmal einen Winter lang gehungert, um seinen Körper im Frühling durch in eine winzige Spalte im Fels quetschen zu können. Er hat Steinschlag und Gewitter überlebt, um sein Leben gebangt und oft so sehr die Zeit vergessen, dass er im Dunklen vom Berg steigen musste. Manchmal ist er mit leeren Händen zurückgekommen und manchmal hat er gar nicht alle Funde in seinen Rucksack stopfen können. „Einmal habe ich vierzig Kilogramm auf einmal vom Berg geschleppt, das war vielleicht eine Schinderei", sagt er und lacht bei der Erinnerung.

Obwohl Ungerank im Zillertal jeden Winkel des Gebirges kennt, ist ihm sein Staunen darüber nie abhandengekommen. Auch an diesem Tag bleibt er hin und wieder stehen, um in die Ferne zu schauen, die Zacken eines Gipfels zu bewundern oder das Lichtspiel zu genießen. Mal steht er still und ergriffen, dann wieder kramt er hektisch seine Kamera aus dem Rucksack, um ein Bild zu machen und den Moment festzuhalten. Als seine Frau Regina noch lebte, hat sie ihn dafür oft milde gescholten: Wohin nur mit all den Fotos? Während er auf den Auslöser drückt, murmelt er „gewaltig" und seufzt zufrieden über dieses Stückchen Erde, das seine Heimat ist und ihm auch nach so langer Zeit immer noch Gänsehaut auf die Arme zupft. „Da, schau!", sagt er wieder und dreht wie zum Beweis die Unterarme.

Am Schwarzsee ist eine kurze Verschnaufpause angesagt. Freundlich begrüßt Ungerank die Wanderer, die dort ihre Jause verzehren und die Zehen ins eisige Wasser tauchen. Er lacht gutmütig und ermuntert sie, ein paar Züge zu schwimmen. Dann setzt er sich auf einen Stein und packt eine Semmel und die Flasche Cola aus, die er sich extra für den heißen Tag eingepackt hat. Für den Kreislauf, ausnahmsweise. Auf Zucker vertraut er. Wenn er loszieht, um Steine zu suchen, hat er neben Pickel, Hammer, Meißel, Wasser und Brotzeit immer auch eine Tafel Schokolade im Rucksack - für den Energieschub beim Abstieg nach einem langen Tag.

Früher hat Walter Ungerank als Agrartechniker beim Land Tirol gearbeitet, doch schon damals hat sein Hobby einen Großteil seiner Zeit beansprucht. Im Laufe der Zeit hat er rund 3.000 Fundstücke vom Berg gebracht und ist nebenbei zu einem wichtigen örtlichen Chronisten für Natur- und Bergbaugeschichte geworden. In seiner grün gekachelten Küche in seinem Haus in Aschau saßen schon Geologen, Archäologen, Historiker und Sammler aus aller Welt, stets hat er sein Wissen bereitwillig geteilt, mit Kindergartenkindern ebenso wie mit Universitätsprofessoren. Im Ort wird „der Staosammler" für seine freundliche Art geschätzt und für sein Wissen bewundert. In der Gegend ist er bekannt wie ein bunter Hund, trifft auch auf dem Rückweg immer wieder Wanderer, die er kennt. Über einen ausladenden Bogen südwestlich der Berliner Hütte geht es zurück ins Tal, das stundenlange Gehen und die zehrende Hitze merkt man Ungerank nicht an. Er wirkt genauso frisch wie vor knapp zehn Stunden, als die Steinwanderung begann.

Im Tal hält der Tag noch einen letzten Abstieg bereit - er führt einige Stufen in den Keller von Ungeranks Haus hinab. Dort lagern in Vitrinen fein säuberlich sortiert und beschriftet seine Schätze. Zepter- und Fensteramethyste, schöne Granate oder enorme Eisenrosen, dunkelgrüne Smaragde und einige Raritäten aus der steinzeitlichen Vergangenheit des Zillertals. Denn wer so viel sucht wie Walter Ungerank, findet zwar nicht immer Edelsteine, aber meist doch irgendwas. Knochen, Werkzeuge und Textilien waren schon dabei. Im Schlegeis etwa hat er einmal Steinzweitwerkzeuge aus Bergkristall gefunden, die auf sieben- bis neuntausend Jahre datiert wurden. „Die Ötzifunde sind nur 5.300 Jahre alt", sagt er und grinst verschmitzt. Überhaupt, am liebsten würde er auch einen Ötzi finden, nur eben im Zillertal. Einen Namen hätte er auch schon: „Zilli würde ich ihn nennen. Irgendwo da draußen ist er bestimmt." Und schon ist sie wieder da, die Gänsehaut.

Darf man Steine einfach mitnehmen?

Wer beim Wandern im Zillertal einen hübschen Stein findet, kann diesen ohne Bedenken mitnehmen. Auch das Sammeln von Mineralien ist laut dem Tiroler Naturschutzgesetz erlaubt, solange es traditionell erfolgt - also nur mit Hammer, Meißel und Pickel. Benzinbetriebene Maschinen oder chemische Stoffe sind bei der Suche hingegen ebenso verboten wie das Sammeln für gewerbliche Zwecke. Speziell im Zemmgrund gelten aber andere Regeln: Auf den tiefer gelegenen Flächen rund um die Berliner Hütte gilt ein Sammelverbot, weiter oben dürfen nur Mitglieder der Vereinigten Mineraliensammler Tirols bzw. der Landesgruppe Salzburg sowie der Mineralien- und Fossilienfreunde Inntal suchen. Wer auf die Suche gehen will, sollte sich vorab über die lokalen Regelungen informieren und möglichst wenige Spuren in der Natur hinterlassen.

Zum Original