Nina Himmer

Freie Journalistin, München

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Artikel

Grenzgänger

Wandern unter blauem Himmel? Kann doch jeder. Gerade bei schlechtem Wetter haben die Berge ihre ganz eigene Magie. Vom Zauber einer Regenwanderung


Der Taxifahrer ist irritiert. „Was wollen's denn da oben bei dem Sauwetter?" Gute Frage. Die haben wir uns auf den letzten Kilometern auch gestellt, während die Regentropfen an die Windschutzscheibe unseres Autos klatschten und sich rechts und links der Straße Nebel- statt Felswände auftürmten. Tapfer bleiben. „Wir wollen wandern. Zum Lafatscher Joch hinauf." Kurze Stille, das Kopfschütteln des Fahrers ist förmlich durch das Handy spürbar. „Heute fährt da keiner hoch", sagt er. „Viel zu nass."

Wir sind in Absam im Halltal. Montagmorgen, 8.15 Uhr, Wanderparkplatz. Irgendwie stehen wir schon im Regen, bevor wir auch nur aus dem Auto gestiegen sind. Eigentlich hatten wir uns den Zustieg über die Mautstraße sparen wollen, die für den privaten Autoverkehr gesperrt ist. Das Taxi war deshalb Teil unseres Plans. Eines Plans, der in den vergangenen Tagen von einer fixen Idee zu konkreter Gestalt gereift ist: Akribisch haben wir Wetterbericht und Regenradar verfolgt, haben Touren verglichen, Jacken gewachst und Wanderschuhe imprägniert, doofe Witze gerissen und getestet, welche Tütenkonstruktion Smartphones am besten vor Wasser schützt. Denn: Wir wollen Regenwandern. Wir, das sind drei Münchner Kletterfreunde, die manchmal zur Abwechslung ihre Waden statt den Bizeps spüren wollen: Nina, Pablo und ich.

Ganz bewusst haben wir uns diesen Tag ausgesucht. Die Vorhersage: 10 Milliliter Niederschlag, 11 Grad im Tal, 3 auf dem berg, 0 Sonnenstunden. Perfekt! Wir hoffen auf wilde Bergromantik mit mystischen Nebelschwaden, verwunschenen Lichtungen, verhangenen Gipfeln und einsamen Pfaden. Schließlich sind die Berge auch da, wenn die Sonne es nicht ist. Als wir ankommen, ist der Parkplatz tatsächlich menschenleer. Sieht so aus, als ob wir die Berge wirklich für uns allein haben. Trotzdem fühlt sich unsere Idee beim Erstkontakt mit der Realität unerwartet fies an. Wenig Sicht, viel Regen und nach der Taxi-Abfuhr statt Idylle erstmal ein Stück Asphalt.

Aber es hilft ja nichts: Wir ziehen uns die Kapuzen ins Gesicht und stapfen los. Immer der Straße nach, die kurvenreich im Nebel verschwindet. Der hängt so dicht im Tal, dass die leuchtenden Neonfarben unserer Jacken zu blassen Pastelltönen verkommen. Neben uns hören wir den Weißenbach gurgeln, sehen können wir das Wasser durch die Wettersuppe nicht. Keiner sagt etwas. Regen ist Fluss, Aufregen ist Überfluss. Wir marschieren steil bergauf, werden mit jedem Höhenmeter wärmer, wacher. Fast übersehen wir den gelben Wegweiser, der uns über eine schmale Holzbrücke in den Wald lotst. Unser Ziel, das Lafatscher Joch, ist noch drei Stunden entfernt.

„Na, glitzert der Matsch auch?"

Mit der Brücke wechseln wir die Welten: Unter den Sohlen knirschen und schmatzen nun Steine, Wurzeln, Laub und feuchte Erde, in den Nadeln der Bäume glitzern Regentropfen und unsere Herzen klopfen nicht mehr nur vor Anstrengung. „Wie schön das hier aussieht!", ruft Nina und dreht sich lachend zu mir um. Während wir uns den winzigen Pfad hinaufschlängeln, reißt der Nebel immer wieder auf und gibt den Blick ins Tal frei, wo der Bach sich zum wilden Fluss aufschäumt. Am Hang gegenüber schimmert eine Melange aus buntem Laub und immergrünen Nadeln. Alles glänzt und glitzert, die Welt sieht aus wie frisch gewaschen. Sie riecht nach Moos und Lehm, wirkt wie weichgezeichnet. Das schärft den Blick für die unmittelbare Umgebung: Der fette Regenwurm, der über den Weg kriecht. Das Spinnennetz, das im Regen aussieht wie etwas sehr Teures von Tiffany. Die Wasserpfütze, die sich in einem Baumstumpf gesammelt hat. Die umgeknickten Birken, deren Stämme im Nebel gespenstisch leuchten. Meine Verzückung endet abrupt, als mir die Füße auf dem glitschigen Boden wegrutschen. Beim Versuch, den Sturz zu bremsen, versenke ich beide Hände im Matsch. „Na, glitzert der Matsch auch?", will Pablo wissen, als er mich grinsend wieder auf die Beine zieht.

Na gut: Weniger gucken, mehr laufen. Wir ziehen weiter, der Weg wird steiler, bis Wald und Felsen plötzlich enden und wir uns unverhofft auf einer großen Lichtung wiederfinden. Das haben wir nicht erwartet. Niemand von uns ist ein penibler Tourenplaner. Mehr als Höhenmeter und ungefähre Gehzeit haben wir nicht gecheckt. Das einzige was uns wichtig war bei dieser Tour: halbwegs gutes Gelände, nicht allzu hoch, sondern entlang der Baumgrenze. Damit es bei schlechter Sicht und rutschigem Boden nicht gefährlich wird. Still, staunend und fast ein wenig feierlich überqueren wir das vom Herbst braungelb gefärbte Gras. Jeder Schritt schmatzt saftig durch die Stille des Waldes. Auf den Wiesen führen schmale Bretter über besonders moorige Abschnitte. Ein bisschen erinnert mich das an eine Tour in den schottischen Highlands, doch dann wird der Nebel nachlässig. Zum ersten Mal, seit wir losgelaufen sind, zeichnen sich hinter dem Grau gezackte Felsen ab, lassen sich Gipfel erahnen. Wir saugen die Umgebung in uns auf - und versuchen, dabei bloß nicht über die Knöchel in Pfützen, Matsch oder Moor zu versinken. Es ist zu früh für nasse Füße, wir haben noch einiges an Strecke vor uns.

Dass die nicht leicht werden wird, ist uns eine Viertelstunde später klar. Scharfes Geröll und faustgroßer Schotter führen hinauf zum Joch. Wasser tropft vom Himmel und von meinen Haaren herab. Mit Nina und Pablo habe ich die richtige Gesellschaft dabei. Die beiden sind nicht nur am anderen Ende eines Kletterseils Verlassmenschen, sondern beweisen auch hier oben ein feines Gespür für Stimmungen. Zwei blöde Sprüche und ein Stück Schokolade später ist die Moral wieder gerichtet. Merke: Bei solchen Unternehmungen die richtigen Menschen mitzunehmen ist genauso wichtig wie die Thermoskanne mit heißem Tee oder die extra dichte Regenjacke. Wir machen eine kurze Pause. Wie auf Kommando hört der Regen auf, wir feiern diesen Umstand mit Nüssen und dampfendem Tee. Obwohl uns der Schotter in den Hintern pikst, sind wir uns schon jetzt einig: Dieser Ausflug hat sich gelohnt. Wir können uns kaum sattsehen an der triefenden Natur, haben noch keine Menschenseele getroffen und fühlen uns ein bisschen härter, als wir sind. Es ist ein schönes Gefühl, gegen die Wettervorhersage zu rebellieren und sich ein Stück Freiheit zu erobern. Es ist ein Privileg, alleine inmitten dieser atemberaubenden Natur zu sein.

Danach beginnt das Latschen durch die Latschen. Kniehoch wuchern sie am Wegesrand, Grün auf Grau, meilenweit. Der Weg erfordert Ausdauer. Nina und Pablo haben davon jede Menge, ich muss schon bald auf eine altbewährte Taktik zurückgreifen: Ständig stehen bleiben und vom Ausblick überwältigt sein. Ein billiger Trick, um meine Erschöpfung zu überspielen. Während ich verzückt in die Landschaft starre, versuche ich meinen rasenden Puls und Atem zu beruhigen. Normalerweise funktioniert das höchstens zwei, drei Mal. Heute aber klappt es wunderbar, weil es tatsächlich immer etwas Neues zu sehen gibt. Der Nebel wabert durch das Tal, fetzt hier und da auf, ständig verändert sich der Ausblick. Mal sieht man den warmen Herbstwald im Tal, mal das kühle Grau des Bergkamms gegenüber oder ein paar Schneeflecken in der Ferne. Dort, wo sich Wolken und Nebel küssen, blitzen hin und wieder Bergspitzen heraus: Lattenspitze, Pfeiserspitze - mit einer Gipfel-App überlisten wir das Wetter und lassen uns zeigen, was es vor uns zu verbergen versucht.

„An solche Dinge erinnert man sich"

Als wir schließlich schweiß- statt regennass am Joch ankommen, ist es auf einmal vorbei mit der Einsamkeit. Richtig voll ist es hier oben! Erstaunt blicken uns die Gämsen an, bevor sie wegspringen. Wir folgen ihnen mit dem Blick, doch der bleibt schon bald an anderen Dingen hängen: Unter uns zieht das wattige Wolken-Nebel-Gemisch wie im Zeitraffer dahin, auf dem Joch ist es trotz dicker Wolkendecke erstaunlich klar. Wir versuchen, in der Ferne eine Wand zu erkennen, an der man schöne Mehrseillängen klettern kann. Suchen das gezackte Panorama nach bekannten Formen ab. Studieren die Wegweiser, checken die Höhe. Dann suchen wir uns einen netten Platz für eine Pause, in unseren Rucksäcken warten schon viel zu lange Käse und Brot, Kartoffelsalat, Beeren und Äpfel. Und der Kaffee, auf den wir schon seit dem ersten Höhenmeter gieren. Doch sobald wir uns setzen, fangen wir an zu frieren. Es ist der vielleicht größte Nachteil des Regenwanderns: Sobald man ruht, kollaboriert die Nässe mit der Kälte. Statt Essen kramen wir nur Mützen und Pullover aus unseren Rucksäcken, hier ist es zu ungemütlich für eine Pause. Im Eiltempo schlittern wir den Schotter mit knurrenden Mägen und motzenden Knien wieder hinab.

Wir haben ein neues Ziel: die Herrenhäuser am Talschluss des Halltals. Das einstige Zentrum des Salzbergwerks mit seinen villenartigen Häusern, in denen früher Verwaltungsbeamte lebten - auf 1400 Metern. Heute sind die Gebäude verlassen. Wenig später zieht Kaffeeduft durch die Luft. Während Tassendampf und Nebeldunst verschmelzen, machen wir es uns so gut wie möglich vor dem Knappenhäusl gemütlich und packen endlich unsere Jause aus; die Uhr zeigt schon fast 15 Uhr.

Beim letzten Abstieg des Tages weicht unsere Euphorie langsam der Erschöpfung. Rund 1300 Höhenmeter, ständiges Balancieren über Matsch und Geröll und kaum Pausen zollen ihr Tribut. Es zieht wieder zu, wird spürbar kälter. Der Nebel frisst das letzte Licht des Tages und spielt uns Streiche. Sind wir hier vorhin auch vorbeigekommen? Müssten wir nicht längst zurück sein? War der Fluss nicht auf der anderen Seite? Irgendwann stolpern wir genauso erledigt wie erleichtert auf den Parkplatz. Eine Weile sitzen wir noch auf der Kofferraumkante und hängen unseren Gedanken nach. Bier trinken, Waden reiben, Schuhe wechseln, Zehen strecken - wir sind ein bisschen stolz, dass wir das durchgezogen haben. „An solche Dinge erinnert man sich", sagt Nina und wir stoßen an. Als wir wenig später vom Parkplatz biegen, muss ich noch einmal an den irritierten Taxifahrer denken. Ich weiß noch immer nicht, was wir da oben wollten bei dem Sauwetter. Aber jetzt weiß ich: es war sauschön.

Fotos: Bert Heinzlmeier

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