Nina Himmer

Freie Journalistin, München

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Artikel

Killerzellen 2.0

Personalisierte Medizin gilt als ein Megatrend der Zukunft. Dolores Schendel und ihre Biotechfirma Medigene gehen noch einen Schritt weiter. Mit individualisierten Therapien sagt das Unternehmen Krebs den Kampf an. Gentests und Big Data spielen dabei eine wichtige Rolle. Eine Nahaufnahme.


Vom Fenster ihres Büros aus kann Dolores Schendel die Umrisse des Münchener Helmholtz-Zentrums im Nebel erkennen - dessen Institut für molekulare Immunologie hat die Chefin der Biotechfirma Medigene 16 Jahre lang geleitet. „Dort hat alles angefangen", sagt sie. Den größten Teil ihres Lebens hat die Wissenschaftlerin und Unternehmerin der Forschung gewidmet: Seit den 70er Jahren untersucht sie T-Zellen und deren therapeutisches Potenzial, ihre Arbeit wurde unter anderem mit dem Preis der Deutschen Krebshilfe ausgezeichnet.

Dolores Schendel ist seit 2016 Vorstandsvorsitzende von Medigene. Das Unternehmen hat 2014 die aus ihrer Forschung hervorgegangene Firma Trianta übernommen, sich seitdem ganz auf Immuntherapien fokussiert und damit 2018 voraussichtlich etwa 10 Millionen Euro umgesetzt.

Schendel gehört zu den Pionieren jener Therapien, die gerade die Medizin umkrempeln. Ihre Forschung ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer personalisierten und zunehmend sogar individualisierten Medizin, bei der es um möglichst gezielte Therapien geht, die auf den genetischen, molekularen oder zellulären Besonderheiten der Patienten fußen. Dank solcher Biomarker können Ärzte feststellen, welche Medikamente sich für welchen Patienten am besten eignen und wie wirksam und verträglich sie voraussichtlich sind. Überflüssige Behandlungen, wirkungslose Therapien und unnötige Nebenwirkungen könnten so vermieden werden.

Das Immunsystem ist wie ein Fingerabdruck und bildet sich bei jedem Menschen individuell. Da wir mit lebenden Körperzellen des Patienten arbeiten, ist die Therapie genau auf den Patienten zugeschnitten.

Die Digitalisierung ist ein wichtiger Katalysator für diese neue Ära der Medizin. Das gilt vor allem für die Krebstherapie, da Tumore aus Genveränderungen entstehen. Welche Mutation ursächlich ist, lässt sich mittlerweile durch genetische Tests klären. Sie verraten den Ärzten alles über die spezifischen Merkmale des Tumors und erklären, warum manche Therapien bei einem Patienten anschlagen und beim nächsten versagen. Mit den Tests gehen Mediziner unterschiedlich um: Eine Möglichkeit ist, sie zu sammeln, aufzubereiten und mit Tausenden von Patientendaten auf der ganzen Welt abzugleichen. Solche Big-Data-Informationen werden dann von Ärzten, Algorithmen und Bioinformatikern analysiert. Das Ergebnis liefert eine optimale Grundlage für eine Therapieentscheidung. Welche Behandlung bietet dem Patienten die besten Chancen? Welche Medikamente lassen sich maßschneidern?

Big Data für ein wehrhaftes Immunsystem

Dolores Schendel und Medigenes über 100 Mitarbeiter gehen noch einen Schritt weiter. Das Immunsystem der Patienten wird so modifiziert, dass es sich gegen bestimmte Krebszellen richtet. Doch dafür muss es den Feind erst mal kennen. Deshalb durchforstet das Unternehmen alle Arten von Daten-Bibliotheken, in der die Eigenschaften unterschiedlichster Tumorzellen verwahrt werden. Brustkrebs sieht anders aus als Leberkrebs, Lungenkrebs, Prostatakrebs oder Leukämie. Vor allem die Oberfläche der Krebszellen ist dabei relevant, denn dort sitzen die Antigene: Wichtige Erkennungsmerkmale, auf die sich die T-Zellen mit speziellen Rezeptoren abrichten lassen. Ein Schlüssel-Schloss-Prinzip, das den Schritt von der personalisierten hin zur individualisierten Medizin ermöglicht: „Das Immunsystem ist wie ein Fingerabdruck und bildet sich bei jedem Menschen individuell. Da wir mit lebenden Körperzellen des Patienten arbeiten, ist die Therapie genau auf den Patienten zugeschnitten", sagt Schendel.

T-Zellen - seit Jahrzehnten widmet sich die gebürtige US-Amerikanerin ihrer Erforschung. Zunächst in den USA und in England. Später lehrte und forschte sie an der Universität München als Professorin für Immunologie und übernahm 1998 als erste Frau die Leitung des Instituts am Helmholtz-Zentrum. „Die Forschung war für mich immer das Wichtigste. Ich wollte T-Zellen ganz genau verstehen und herausfinden, wie man sie für den Kampf gegen Krebs nutzen kann."

Wann immer wir einen Infekt haben, produziert der Körper viele T-Zellen, die sich gezielt gegen krankmachende Keime richten. Sobald die Zellen aktiv sind, zerstören sie Viren oder Bakterien gnadenlos. Ist der Job erledigt, sterben sie wieder ab. Nur ein kleiner Rest verbleibt als Gedächtniszellen in den Lymphknoten und im Knochenmark. Sie schlagen sofort Alarm, wenn die Erreger wieder im Körper auftauchen. Aus diesem Grund können Menschen durch einen Erreger in der Regel nicht zweimal krank werden.

Es gibt T-Zellen, die es auch mit Tumoren aufnehmen können. „Aber gegen die Überzahl der sich rasant teilenden Krebszellen haben sie keine Chance", sagt Dolores Schendel. Hier setzt Medigene an. Krebspatienten wird Blut entnommen, aus dem T-Zellen gewonnen werden. Im Labor können die Forscher diese binnen weniger Wochen mit spezifischen Rezeptoren ausstatten und vermehren. Damit können die T-Zellen später Antigene auf Krebszellen erkennen.

Diese Rezeptoren sind Medigenes Beitrag zu einer medizinischen Revolution: Wohl kein anderes Unternehmen verfolgt einen derart systematischen und automatisierten Ansatz, um T-Zellrezeptoren zu entdecken. Dazu nutzt das Unternehmen eine bioinformatische Software, die aus verschiedenen öffentlichen Datenbanken große Informationsmengen zur Proteinhäufigkeit im menschlichen Körper abfragt. Anhand dieser Daten können die Forscher neuen Zielstrukturen auf die Spur kommen und sich auf die Suche nach Rezeptoren dagegen machen. Außerdem lassen sich damit potenzielle Nebenwirkungen besser einschätzen.

Auch abseits der Forschung setzt Medigene auf Big Data, etwa für Marktanalysen. Bevor Entwicklungskandidaten in die Pipeline gehen, wird auf diese Art überprüft, ob ein ausreichend großer Absatzmarkt existiert und wie sich größere medizinische Trends und konkurrierende Produkte auf die Entwicklung auswirken.

Immuntherapien auf dem Vormarsch

Aber zurück zu den T-Zellen. „Die veränderten, lebenden Zellen werden den Patienten über eine Transfusion zurückgegeben, sodass sie im Körper wirksam werden können", erklärt Dolores Schendel. Dort sollen die neuen T-Zellen die Krebszellen aufspüren und dann zerstören. Im Idealfall bleiben außerdem Gedächtniszellen zurück, die weiterhin Ausschau nach Krebszellen halten. Damit sollen sie vor den gerade bei Krebs gefürchteten Rückfällen schützen.

Medigene hat aktuell drei T-Zell-Technologien in der Entwicklung: die auf Krebszellen abgerichteten T-Zellen, einen Krebsimpfstoff mit dendritischen Zellen für die Anwendung nach einer Chemotherapie sowie eine Plattform zur Entwicklung von T-Zell-spezifischen Antikörpern. Die ersten zwei Ansätze befinden sich bereits in klinischen Studien. Schendel hofft auf positive klinische Ergebnisse, für Medigene wäre es ein großer und wichtiger Erfolg.

Immuntherapien sind punktuell teuer, aber in der Regel nur einmal nötig und möglicherweise dauerhaft wirksam.

Nicht nur in der Onkologie, sondern in vielen Bereichen der Medizin sind Immuntherapien auf dem Vormarsch. Aus gutem Grund: Letztlich entscheidet das Immunsystem darüber, ob wir krank oder gesund sind. Es zu beeinflussen, schafft gänzlich neue Möglichkeiten für personalisierte und individualisierte Therapien. Wird das medizinische Wissen dann noch digital gestützt mit bioinformatischen Methoden verknüpft, ergeben sich völlig neue Möglichkeiten.

„Wir sind erst in der zweiten Generation solcher Therapien, da ist noch viel Raum für Verbesserungen", sagt Schendel. Die Patienten, die derzeit im Rahmen von Studien mit T-Zellen behandelt werden, sind allesamt austherapiert. Das bedeutet, dass die etablierten Behandlungsmethoden versagt haben. Doch auch von diesen schwerkranken Menschen gibt es erstaunliche Erfolgsgeschichten. Sie kommen vor allem aus den USA. Für eine Studie zu dem Medikament Kymriah etwa, das von Novartis vertrieben wird, wurden 79 Patienten behandelt, von denen nach drei Monaten 82 Prozent krebsfrei waren. „Mit CAR-T-Zellen konnten selbst weit fortgeschrittene Tumorerkrankungen unter Kontrolle gebracht werden", sagt Schendel. Ein wichtiges Ziel wird deshalb sein, die Mittel künftig nicht nur bei Sterbenskranken, sondern in viel früheren Stadien der Krankheit einzusetzen.

Verschärft sich das Problem der Zwei-Klassen-Medizin?

Das aber wirft Fragen auf: Wie sollen solche Therapien finanziert werden? Wer schützt die Patientendaten, die so sensible Informationen wie Zelltypen oder den genetischen Fingerabdruck enthalten? Medigene nutzt nur einzelne Merkmale des menschlichen Genoms, trotzdem spielt Datenschutz eine wichtige Rolle. Alle Daten werden codiert, die Mitarbeiter speziell geschult und die pseudonymisierten Patientendaten auf gesicherten Servern abgelegt. Würden sich solche Therapien in Zukunft im großen Stil durchsetzen oder gar Standard werden, müssten Medizin und Politik den Datenschutz aber ganz neu denken.

Auch die Kosten stellen aktuell noch eine große Hürde dar. Labordiagnostik und molekulare Medizin sind trotz großer Fortschritte noch immer sehr teuer; neue Arzneien wie eine Immuntherapie mit dem Wirkstoff Ipilimumab schlagen mit rund 80.000 Euro zu Buche. Eine zelluläre Therapie, etwa mit Kymriah, kommt auch aufgrund des hohen Anteils an Handarbeit bei der Herstellung im Labor auf rund 320.000 Euro. Einige Experten fürchten deshalb, dass die personalisierte Medizin nur einem exklusiven Patientenkreis zugutekommen könnte und damit das Problem der Zwei-Klassen-Medizin verschärft.

Dolores Schendel ist anderer Meinung: „Man muss das große Ganze im Blick haben. Immuntherapien sind zwar punktuell teuer, aber dafür in der Regel nur einmal nötig und möglicherweise dauerhaft wirksam. Die Folgekosten sinken also genauso wie jene für unnötige Behandlungen." Tatsächlich gibt es auch Rechenmodelle, die zugunsten personalisierter Therapien ausfallen, weil die Effizienz der Behandlungen steigt. Das könnte die Belastung für den Einzelnen genauso reduzieren wie jene für das Gesundheitssystem. Schließlich leiden gerade Krebspatienten oft lebenslang nicht nur unter den Folgen ihrer Krankheit, sondern auch unter den Nachwirkungen der sehr belastenden Therapien. Außerdem sind viele nicht in der Lage, auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren.

Heilen ist ein großes Wort. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir die Krankheit kontrollieren werden können.

Würde man eine sanfte, aber gleichzeitig nachhaltig wirksame Behandlungsmethode finden, würden die Kosten unter dem Strich wohl trotzdem sinken. Zumal davon auszugehen ist, dass mit der zunehmenden Anwendung von Immuntherapien die Preise ebenfalls sinken werden - durch Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapien und Verbesserungen im Herstellungsprozess. „Wenn man die Prozesse weiter automatisiert und verschlankt, wäre großes Einsparpotenzial vorhanden", sagt Schendel. Immuntherapien sind also Chance und Herausforderung zugleich, aber so ist das nun mal mit Innovationen.

Vor dem Fenster des Büros hat sich der Nebel inzwischen verflüchtigt. Das Helmholtz-Institut ist nun gut zu erkennen. Wird sich Krebs in Zukunft heilen lassen? „Heilen ist ein großes Wort. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir die Krankheit kontrollieren werden können", sagt Schendel. Das ist ihr Ziel. „Ich bin immer noch Forscherin. Aber jetzt lebe ich den Traum, Wissen in Nutzen zu übersetzen."

Beitrags- und Sidebarbild: Medigene
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