Nina Himmer

Freie Journalistin, München

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Artikel

Menschen und ihre Monster

Warum fürchten Kinder sich vor Ungeheuern? Und wie sollten Eltern damit umgehen? Über die Lust am Gruseln bei Kleinen und Großen - und was wirklich hinter den Monstern steckt.


Riesige Reißzähne, zotteliges Fell, blutunterlaufene Glubschaugen: Mias Monster sieht überraschend niedlich aus. Eher wie ein verwirrtes Smiley als wie ein Furcht einflößendes Ungeheuer. Dagegen wirkt Oskars Kreatur mit ihren drei Köpfen und den spitzen Klauen deutlich gruseliger. Caspar wiederum lässt sein Monster auf Wolken über einer bunten Stadt schweben. Der Neunjährige hat ihm ein riesiges Auge, einen kugelrunden Körper und jede Menge Fangarme verpasst.


All diese Monster haben es ins Museum geschafft. Den September über sind sie im Berliner Urban Nation Museum zu sehen, das damit eine Idee aus den USA nach Deutschland geholt hat: Kinder bringen ihre Monster zu Papier, anschließend interpretieren Künstler die Vorlagen. Am Ende werden die Werke gemeinsam ausgestellt und lassen die kindliche mit der erwachsenen Fantasiewelt verschmelzen. Dabei entsteht eine wilde Melange aus Ängsten und Gedankenfetzen, farbenfrohen Fratzen und düsteren Szenarien.


Jedes Kind braucht seine Monster. Mal entspringen sie der eigenen Fantasie, mal Büchern oder Filmen. Früher oder später lauern sie dann unter dem Bett oder im Schrank, kratzen nachts am Fenster, jaulen mit dem Wind oder verstecken sich hinter dem Vorhang. Das ist ganz normal: "Für Kinder sind Monster wichtig, um ihre Ängste zu bearbeiten und sich ihnen zu stellen", sagt Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologen. Vor allem zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr tummeln sich viele Kreaturen in ihrem Kopf, Psychologen bezeichnen diese Altersspanne deshalb auch als "magische Phase". Kinder gehen währenddessen ganz selbstverständlich davon aus, dass alles, was sie sich vorstellen können, tatsächlich möglich ist. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion existiert für sie noch nicht, alles ist real. Das gilt dann eben auch für den Hai unter dem Bett, die Hexe vor dem Fenster oder das Gespenst, das sich nachts durch das Schlüsselloch quetscht.

"Es ist wichtig, ihre Ängste ernst zu nehmen und innerhalb der kindlichen Vorstellungswelt zu bleiben, um ihnen zu begegnen", sagt Psychologe Seifried. Statt die Monsterangst abzutun, sei es besser, gemeinsam eine Falle zu bauen, abends vor dem Schlafengehen bissige Piranhas aus jeder Zimmerecke zu wischen oder einen Teddybären mit Monsterabwehrkräften auf dem Bett zu platzieren. Solche Bewältigungsstrategien helfen dabei, Ängste zu kontrollieren. Und dieses Gefühl macht mutig und stark.

Erst nach dem fünften Lebensjahr wird die Trennung zwischen Realität und Fiktion allmählich schärfer, um das siebte Lebensjahr herum unterscheiden die meisten Kinder klar. Forscher der Universität von Kalifornien konnten nachweisen, dass sich ihr Umgang mit Monstern dann deutlich ändert. Während jüngere Kinder nach Möglichkeiten suchen, dem Ungeheuer die Gefährlichkeit zu nehmen, entsteht bei älteren erst gar keine Unsicherheit. Monster? Die gibt es doch gar nicht!


Man könnte meinen, das Thema habe sich damit erledigt. Tatsächlich aber bleiben Monster auch im Leben von Erwachsenen präsent, sie ändern nur ihre Gestalt. Auch die Fähigkeit, sich zu gruseln, behalten Menschen ein Leben lang. Das kommt nicht von ungefähr: "In der Suche nach dem Nervenkitzel steckt ein Überlebensvorteil", sagt Peter Walschburger. Der Biopsychologe von der FU Berlin forscht seit Jahrzehnten zu einem Phänomen, das Wissenschaftler "Angstlust" nennen. Das Wort beschreibt die paradox erscheinende Tatsache, dass negative Emotionen wie Angst oder Entsetzen mit positiven Gefühle wie Freude, Lust oder Entspannung einhergehen können. Evolutionär betrachtet hat diese Angstlust durchaus ihren Sinn. Sie ermöglicht uns, auf spielerische Art Erfahrungen zu sammeln und gefahrlos zu erproben, wie wir mit Aufregung, Angst und Bedrohung klarkommen. "Der Unterschied zwischen blanker Angst und wohligem Gruseln liegt in der Sicherheit der Situation", erklärt Walschburger. Soll heißen: Niemand würde auf einer dunklen Straße gerne einem Zombie oder einem Horrorclown begegnen, im Kinosessel aber genießen wir dieses Abenteuer.


Zumindest manche von uns, denn Angstlust ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. "Jeder Mensch vereint einen Angsthasen und einen Abenteurer in sich. Was stärker durchschlägt, hängt zum Beispiel vom Alter, dem Geschlecht und der Sozialisation eines Menschen ab", sagt der Forscher. Entsprechend unterschiedlich fallen die Gruselvorlieben aus. Bei manchen treibt schon der Sonntagskrimi den Puls nach oben, andere suchen Abenteuer in der Natur oder beim Extremsport, schauen Splatterfilme, zelebrieren Halloween oder fiebern bei Zombie-Serien mit. Dem zugrunde liegt eine tief verwurzelte Faszination für das Unheimliche: Gruselige Orte und Geschichten reizen uns ebenso wie Nachrichten über Unfälle, Gewaltexzesse und Katastrophen.

Dass Gruseln so ein starkes Gefühl ist, hat auch mit der Chemie dahinter zu tun: Angst und Gruseln haben denselben Ursprung im Gehirn. Sie entstehen in der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems, der unter anderem in potenziell gefährlichen Situationen aktiv ist. Manchmal reichen schon Kleinigkeiten, um unser Gehirn in Alarmzustand zu versetzen - ein Geräusch, ein Schatten oder eine Bewegung. In der Folge werden Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, außerdem wappnet uns das vegetative Nervensystem für mögliche Reaktionen: Fliehen? Kämpfen? Verstecken? Erst mit zeitlicher Verzögerung beginnen wir, die Situation zu bewerten. Es dauert also ein bisschen, bis wir merken: Fehlalarm, alles in Ordnung! Mit dieser Erkenntnis kommt die Erleichterung - und mit ihr das gute Gefühl, das die Lust an der nun als unbedenklich entlarvten Angst ein Stück weit erklärt.


Monster als wertvolle Seismographen unserer Ängste

Die Kunst nutzt dieses Wechselbad der Gefühle. "Die Lust am spielerischen Umgang mit Aufregern in einem sicheren Kontext ist die affektive Basis für künstlerisches Schaffen, das in Kunst, Literatur und Musik immer wieder große Wirkung mit dem ästhetischen Erleben gemischter Gefühle erzielt", sagt der Biopsychologe Walschburger. Und Monster seien eben eine Art, die Angstlust künstlerisch zu bedienen. Dabei mischen sich popkulturelle Visionen mit archaischen Ängsten, die Menschen seit Jahrhunderten umtreiben.

Bei Erwachsenen kommt noch eine andere Bedeutung hinzu: In Monstern manifestieren sich kollektive Ängste - zum Beispiel vor übermäßiger Technisierung, menschenverachtenden Wirtschaftssystemen, dem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts, Krieg oder der Kontrolle durch Maschinen. Für viele Forscher entspringen Monster deshalb dem Zeitgeist der Gesellschaft, die sie ersinnt. Der Kölner Philosoph und Bildungsforscher Matthias Burchardt etwa vertritt die These, dass Monster stets auch Mahnzeichen sind, mit denen die herrschende gesellschaftliche Ordnung infrage gestellt wird.

"Jede Zeit hat ihre Monster", ist auch Hubert Filser überzeugt. Der Physiker und Wissenschaftsjournalist, der auch für die SZ schreibt, hat das Buch "Menschen brauchen Monster" geschrieben und bestätigt, dass sie zeittypische Ängste widerspiegeln: Das japanische Filmmonster Godzilla etwa entstand nach dem Abwurf der Atombombe, Aliens haben seit Beginn der Raumfahrt Konjunktur, und der Roman "Frankenstein" symbolisierte schon 1818 die Furcht vor Grenzüberschreitung durch Technik. Das von einem Wissenschaftler aus Leichenteilen zusammengesetzte und mit Elektrizität zum Leben erweckte Monster ist eines der spannendsten der Geschichte. Manche gehen davon aus, dass die Handlung vor einer Umkehrung der Verhältnisse zwischen Sklaven und Meistern warnen wollte - schrieb Mary Shelley ihn doch etwa zehn Jahre nach Abschaffung des Sklavenhandels im British Empire. Die meisten Deutungen aber zielen darauf ab, dass der Mensch sich nicht zum Schöpfer erheben soll und wissenschaftlicher Fortschritt die Gefahr birgt, eine Gesellschaft ins Unglück zu stürzen. So ist "Frankenstein" auch 200 Jahre später noch so aktuell, dass Regisseure wie Danny Boyle den Stoff auf die Bühne bringen.


Jeder Unhold hat seine Zeit. Zombies etwa sind heute aktueller als je zuvor

Dass Monster sich mit dem Zeitgeist verändern, ist typisch. Zombies zum Beispiel hatten schon in den Siebzigerjahren Hochkonjunktur. Während der neoliberalen Wirtschafts- und Umweltkrise verkörperten sie perfekt den zur seelenlosen Masse degradierten Menschen, der in der Konsumwirtschaft nichts mehr wert ist. Mittlerweile stehen sie für ein Zeitalter, in dem die Digitalisierung an der Seele der Menschheit nagt und in dem eine ganze Generation rotäugig, stumm und bewegungslos vor Bildschirmen sitzt. Eine solche Zeit bringt auch neue Monster hervor. Cyborgs zum Beispiel, jene Mischwesen aus Mensch und Maschine, die eine Projektionsfläche etwa für die Angst vor künstlichen Intelligenzen bieten. "Monster liefern Hinweise darauf, wenn gesellschaftlich etwas aus dem Lot zu geraten droht", sagt Autor Filser, "das macht sie zu wertvollen Seismografen unserer Ängste."

Dass auf der Gruselliste von Erwachsenen so viele menschenähnliche Monster stehen, ist kein Zufall. Stephen Kings Horrorclown Pennywise etwa ist für viele das personifizierte Grauen, auch Zombies oder Cyborgs unterscheiden sich oft nur in Nuancen vom Normalen. Eine Erklärung dafür bietet das Uncanny-Valley-Phänomen. Es besagt, dass Menschen Roboter besser akzeptieren, wenn sie sehr menschlich anmuten. Allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt: Ist dieser überschritten, finden wir die künstlichen Wesen unheimlich. Der Grund dafür ist eine minimale Verschiebung zwischen Wahrnehmung und Erwartung, denn jede Abweichung von der Norm macht uns misstrauisch, wie psychologische Experimente bestätigt haben.


Monster werden uns auch in Zukunft begleiten. Vielleicht ist sogar eine der Kreaturen darunter, die gerade in der Berliner Ausstellung zu sehen sind. Der Journalist Hubert Filser jedenfalls ist überzeugt: "In unserer überorganisierten und technisierten Zeit brauchen wir Monster mehr denn je."

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