Nina Himmer

Freie Journalistin, München

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Wie Probiotika gegen Reizdarm helfen

Für Martin Storr ist das Reizdarm-Syndrom wie ein Puzzle, dem noch wichtige Teile fehlen. Peter Layer vergleicht die Krankheit gerne mit einem Gebäude, in dem es viele ungeöffnete Türen gibt. Ausdrücken wollen damit beide Professoren dasselbe: Das Reizdarm-Syndrom gibt Medizinern nach wie vor Rätsel auf.

Schätzungsweise vier bis zehn Prozent der deutschen Bevölkerung quälen sich mit wiederkehrendem Durchfall, Krämpfen, Verstopfung und Blähungen. Oft sind die Beschwerden so schlimm, dass einem die eigene Verdauung den Tagesablauf diktiert.

Welche Rolle spielen Darmbakterien bei Reizdarm?

Ärzte können das Leiden zwar klar diagnostizieren, kennen bisher aber nur einen Teil seiner Auslöser - etwa genetische Veranlagung, Stress, psychische Belastung, Infektionen oder auch die Einnahme von Antibiotika. Diese Vielfalt an Ursachen macht die Therapie schwierig und zieht für Patienten oft einen Behandlungs-Marathon nach sich. Denn was dem einen hilft, zeigt beim anderen oft keine Wirkung.

"Bis wir ein vollständiges Bild von dieser Krankheit haben, wird noch viel Forschungsarbeit nötig sein", sagt Layer, ärztlicher Direktor des Israelitischen Krankenhauses in Hamburg. In den Fokus dieser Forschung rückt seit einiger Zeit immer wieder die vielleicht größte Wohngemeinschaft der Welt: unser Mikrobiom.

Darunter versteht man die rund 100 Billionen Bakterien, die auf und in einem Erwachsenen leben. Sie tummeln sich zum Beispiel auf unserer Haut und den Schleimhäuten, im Mund, Magen und Darm. Vor allem im Dickdarm fühlen sich Bakterien wohl, bis zu 1400 verschiedene Arten besiedeln dessen Schleimhäute.

Gerät die Darmflora aus dem Gleichgewicht, leidet die Gesundheit

Gut möglich, dass die winzigen Organismen für Reizdarm-Forscher tatsächlich ein wichtiges Puzzleteil oder eine neu geöffnete Tür darstellen. Denn anders als lange gedacht sind die Bakterien mitnichten nur für unsere Verdauung zuständig. Neue Erkenntnisse zeigen, dass sie vielfältige Aufgaben im Körper haben, bei unzähligen Prozessen eine Rolle spielen. Offenbar beeinflussen sie nicht nur unser psychisches Wohlbefinden, das Körpergewicht und das Immunsystem, sondern auch die Entstehung bestimmter Krankheiten. Diskutiert wird zum Beispiel ein Zusammenhang mit Depressionen, Rheuma, Diabetes, multipler Sklerose - und dem Reizdarm-Syndrom.

Klar scheint jedenfalls: Gerät das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht, leidet die Gesundheit. Wie weit die Zusammenhänge tatsächlich reichen, beginnt die Wissenschaft aber gerade erst zu entdecken.

"Ich bin überzeugt, dass das Mikrobiom für Reizdarm-Patienten eine wichtige Rolle spielt", sagt Experte Layer. Die Zahl der Studien zu diesem Thema habe sich in den vergangenen Jahren vervielfacht, ständig kämen neue Erkenntnisse hinzu. Layer: "Wir können festhalten, dass sich die Symptome des Reizdarms in vielen Fällen über die Darmflora beeinflussen lassen."

Darmflora bei Reizdarm-Patienten verändert

Dass sich Stuhl und Darmflora von Reizdarm-Patienten deutlich von denen gesunder Personen unterscheiden, konnte mittlerweile belegt werden. Sogenannte Proteo- und Firmicutes-Bakterien kommen zum Beispiel vermehrt vor, während die Anzahl von Acinetobacter, Bacteroides und Bifido-Bakterien verringert ist.

Das alles weist auf eine Störung des Darm-Mikrobioms hin. Noch weiß man jedoch nicht, ob es sich dabei um eine Ursache oder eine Folge des Leidens handelt. "In jedem Fall ist es aber eine wichtige Stellschraube für die Krankheit", sagt Professor Martin Storr vom Zentrum für Endoskopie in Starnberg.

Probiotika zeigen positive Wirkungen

Am besten drehen lässt sich an dieser Schraube mit Probiotika. So werden lebende Bakterien und Hefepilze bezeichnet, die in milchsauren Produkten wie Joghurt, Kefir oder Buttermilch vorkommen. Sie gehören zu den gesundheitsförderlichen Mikroben und tragen dazu bei, die Darmbarriere zu stärken und krank machende Erreger in Schach zu halten. Sind also die guten alten Milchsäurebakterien die Lösung für Reizdarm-Geplagte?

"Probiotika wirken im Körper vielfältig. Sie hemmen zum Beispiel das Wachstum schädlicher Keime und deren Anhaftung an die Darmschleimhaut, lindern Entzündungen, stärken das Immunsystem und verbessern die Darmbewegung", erklärt Layer, der selbst einige Studien zum Thema durchgeführt hat und von der positiven Wirkung überzeugt ist. Und damit steht er nicht allein da: Schon 2011 hat die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) die Therapie mit Probiotika in ihre Leitlinien zur Behandlung des Reizdarm-Syndroms aufgenommen.

Joghurt löffeln bringt nichts

Was bedeutet das für Patienten? Damit, mehr Joghurt zu essen oder speziell angereicherte Drinks zu konsumieren, ist es jedenfalls nicht getan. Mit den paar Millionen Bakterien, die darin enthalten sind, lässt sich die Darmflora kaum beeindrucken. "Zu therapeutischen Zwecken braucht es höhere Dosierungen, damit genug lebende Bakterien in den Darm gelangen", sagt Storr.

Entscheidend sei zudem die Wahl des Bakterienstammes. Laut den Leitlinien helfen etwa Bifidobacterium infantis und Lactobacillus casei Shirota gegen Blähungen, während sich E. coli Nissle bei Verstopfung bewährt hat und Lactobakterien bei Durchfall anschlagen. "Es kann passieren, dass man nacheinander ausprobieren muss, was hilft", erklärt Layer.

Generell ist bei dieser Therapie Geduld gefragt. In der Regel dauert es mehrere Wochen, bis die Wirkung eintritt. Diese hält auch nur so lange an, wie man die Bakterien einnimmt. Und ob eine Probiotika-Behandlung wirklich anschlägt, kann niemand vorhersagen. Layer: "Probiotika haben ein enormes Potenzial. Aber bei manchen Patienten sind sie trotzdem völlig wirkungslos."

Warum das so ist, das ist nur eine von vielen offenen Fragen: Wirken Probiotika besser, wenn man sie mit Ballaststoffen kombiniert? Hilft es, begleitend die Ernährung umzustellen? Sollte man Probiotika als Kapseln einnehmen oder besser nach einer Darmspülung direkt auf die Schleimhaut sprühen? "Da muss noch viel spezifischer geforscht werden", sagt Storr.

Ist die Stuhl-Transplantation eine Option?

Als einer der ersten Ärzte in Deutschland arbeitet Storr auch mit dem fäkalen Mikrobiom-Transfer, besser bekannt als Stuhl-Transplantation. Dabei wird aufbereiteter Stuhl eines gesunden Spenders in den Darm des Empfängers eingebracht, um dort ein gesundes Bakterienmilieu herzustellen. Klingt etwas eklig, ist aber effektiv - zumindest bei einer bestimmten Infektion. Bisher sieht es allerdings nicht so aus, als ob sich diese Methode bei Reizdarm-Patienten durchsetzen würde. "Momentan stellt das eher eine Option für Einzelfälle dar, bei denen sonst nichts anschlägt", so Storr.

Für alle anderen lohnt ein ernsthafter Versuch mit Probiotika - also mit dem richtigen Stamm, über einen längeren Zeitraum und in ausreichender Dosierung. Es gibt keine nennenswerten Nebenwirkungen, die Einnahme ist unkompliziert, und die Therapie lässt sich gegebenenfalls mit anderen Maßnahmen kombinieren.

"Wir haben diese Tür aufgemacht, aber bisher nur mit einer Taschenlampe hineingeleuchtet. Wir sehen einen langen Flur, von dem noch viele Türen abgehen. Dahinter gibt es viel zu entdecken", sagt Layer.


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