Nina Himmer

Freie Journalistin, München

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Artikel

Den Schmerz an der Wurzel packen

Zahnärzte können heutzutage fast schmerzfrei arbeiten. Trotzdem haben viele Patienten noch Scheu vor einer Behandlung. Für die Betroffenen wird die Angst selbst zur Qual


Wie im Horrorfilm. So fühlt es sich für Al­brecht Schmierer an, wenn er an die Zahnarztbesuche seiner Kindheit denkt. Wie er sich eine Ohrfeige einfing, weil er nach einem schmerzhaften Ausrutscher des Bohrers in sein Zahnfleisch reflexartig zubiss. Wie ihn der Zahnarzt fest in die Lippe zwickte und ermahnte, er solle sich nicht so anstellen. Dann spürt er wieder die zerrende Hand des Vaters auf dem Weg zur Praxis und die quälende Enge im Brustkorb, als er auf den Behandlungsstuhl gedrängt wurde. "Für mich war das wie Folter", sagt Schmierer. Unzählige Male hat Schmierer diese Angst wieder gesehen, denn trotz seiner schlechten Erfahrungen ist er selbst Zahnarzt geworden - und hat sich auf Angstpatienten spezialisiert. Davon gibt es in Deutschland eine Menge. Bei den einen lösen der Geruch von Desinfektionsmitteln oder das Geräusch des Bohrers Panik aus. Andere schaffen es gar nicht erst bis in die Praxis, sondern schlucken lieber Schmerzmittel, sehen ihren Zähnen beim Verfaulen zu und gewöhnen sich Mimik und Lachen ab. "Oralophobiker" nennt man sie, und ihre Zahl wird in Deutschland auf 12 bis 16 Millionen geschätzt. "Die Angst hat viele Facetten", sagt Schmierer. Meist sei es der Schmerz, den die Menschen fürchten. Nicht ohne Grund: In der Pulpa, verborgen unter harter Zahnsubstanz, verläuft ein hochempfindliches Netzwerk aus Nerven. Manche Patienten fürchten aber auch den Kontrollverlust, heftige Würgereize, die körperliche Nähe des Arztes oder schämen sich ihrer üblen Zähne. "Ich bin auch kein Held auf dem Zahnarztstuhl. Es ist einfach eine unangenehme Situation", gibt der Münchner Zahnarzt und Ästhetik-Spezialist Jan Hajtó freimütig zu. Er weiß aber auch: Schlimmer als unangenehm wird es meist nicht. "In der modernen Zahnmedizin lassen sich 99 Prozent der Schmerzen kontrollieren." Das wichtigste Mittel ist dabei eine farblose Flüssigkeit: Articain. In deutschen Praxen werden 90 Prozent der lokalen Betäubungen mit Articain durchgeführt - der Stoff gilt als zuverlässig und gut verträglich. Damit unterscheidet er sich vom Kokain, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts zum selben Zweck genutzt wurde und noch lange als chemisches Vorbild für Betäubungsmittel diente. Das Problem: Articain wirkt nur, wenn es injiziert wird. "Gerade ängstliche Patienten fürchten sich aber meist vor Spritzen", sagt Hajtó. Die Lösung dieses Dilemmas schmeckt nach Erdbeere, Minze oder Schokolade und wird als lokal betäubendes Gel auf die Schleimhaut aufgetragen. Vom Einstich mit der hauchdünnen Nadel spürt der Patient dann nichts mehr. Obwohl sich der Schmerz ausschalten lässt, verzichtet Angstspezialist Schmierer mitunter auf Betäubungsmittel. Lieber lässt er seine Patienten Farben fühlen, Wörter im Kreis denken oder erzeugt mit samtig-weicher Stimme Bilder in ihrem Bewusstsein. Mit medizinischer Hypnose versetzt er sie in Trance, einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem die äußere Wahrnehmung heruntergefahren wird. Die Methode wirkt Wunder gegen Angst und ist durch Studien gut belegt. "Das hat nichts mit dem Show-Hokuspokus aus dem Fernsehen zu tun", betont Schmierer. Ein Patient in Hypnose sei ganz auf sein Inneres konzentriert, Puls und Atmung beruhigen sich, der Blutdruck sinkt und die Muskeln entspannen. "Das erleichtert das Einspritzen und macht zur Not auch Behandlungen ohne Spritze möglich."

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Erreicht wird die Trance durch suggestive Beeinflussung, Entspannungsanleitungen und Hilfsmittel wie ruhige Musik oder Lichtpunkte. Das mag banal klingen, ist aber in manchen Fällen eine Alternative zur Vollnarkose. Schmierer hat bei hypnotisierten Patienten schon Weisheitszähne operiert. Etwa 10 Prozent der Bevölkerung lassen sich so stark hypnotisieren, dass solche Behandlungen möglich sind. Weitere 80 Prozent gelten als gut hypnotisierbar, in Kombination mit Lachgas eignet sich die Methode für fast jeden. Niemand, da sind sich die Ärzte einig, müsse sich heute von der Angst unterkriegen lassen. Ob Vollnarkose, Lachgas, Lokalanästhesien, Entspannungsübungen, Hypnose, Dämmerschlaf-Sedierungen oder Ablenkung mittels Musik oder TV - die Zahnmedizin ist für Angstpatienten bestens gerüstet. Es gibt sogar spezielle Schlaf-Zahnärzte, die nur unter Vollnarkose behandeln, oder solche, die "Sprechstunden ohne Bohrer" anbieten und ihre Patienten während der Behandlung mittels Videobrille in andere Welten schicken. So kann man die Lieblingsserie schauen, während am Gebiss gewerkelt wird. Viele Zahnärzte haben außerdem eine Zusatzausbildung für ängstliche Patienten. Sie nehmen sich mehr Zeit, machen keine Vorwürfe und arbeiten mit speziellen Techniken. "Wer Angst hat, sollte offen damit umgehen", rät Hajtó. Als letzter Ausweg bleibt eine Psychotherapie: Weil die Angst vor Zahnbehandlungen als Phobie anerkannt ist, zahlen die Kassen dafür. Patienten lernen in der Therapie, die Kontrolle über ihre Angst zu erlangen. Das ist wichtig, denn schlechte Zähne sind nicht nur ein ästhetisches, sondern vor allem ein gesundheitliches Problem: Bakterien aus dem Mund können über das Blut in den ganzen Körper gelangen und dort wüten. Zahnpro­bleme können Gefäßverkalkungen, Schlagan­fälle, Herzinfarkte, rheumatoide Arthritis, Immun­schwäche und sogar Krebs befördern.

Bei der Behandlung profitieren Ängstliche von einem generellen Wandel in der Zahnmedizin. Während früher das Credo "extension for prevention" ("Ausdehnung zur Vorbeugung") galt, sind heute minimal-invasive Eingriffe das Maß der Dinge. Statt bei Erkrankungen vorsorglich viel Zahnsubstanz zu entfernen, wird möglichst schonend gearbeitet. Ein gutes Beispiel dafür ist Karies. Bevor ein Zahnarzt zum Bohrer greift, kann er Löchern mit Fluoridlacken, Infiltrationstechniken oder Lasern sanft zu Leibe rücken. Vor allem beginnende Karies kann so oft ohne Bohrer gestoppt werden. Der klingt übrigens nur deshalb so unangenehm laut, weil Kiefer- und Schädelknochen einen hervorragenden Resonanzkörper abgeben und das Geräusch im Kopf verstärken. Dagegen helfen leider selbst modernste Geräte nicht, sondern allenfalls laut gestellte Kopfhörer. Wer regelmäßig zum Zahnarzt geht, hat aber ohne­hin gute Chancen, dem Bohrer zu entgehen. Genau das aber fällt vielen Angstpatienten schwer. "Die meisten haben in ihrer Kindheit schlechte Erfahrungen gemacht, wurden festgehalten oder hatten bei der Behandlung Schmerzen. Diese Angst sitzt so tief, dass viele gar nicht mehr gehen", sagt Hajtó. Dafür, dass es gar nicht erst so weit kommt, sorgen heutzutage Kinderzahnärzte wie Angela Freundorfer aus München. In ihrer Praxis gibt es viel Spielzeug, die Mitarbeiter sind geschult und nehmen die Kinder ernst. Tatsächlich kommen die meisten kleinen Patienten nämlich neugierig und ohne Angst in die Praxis, sie haben ja noch keine negativen Erfahrungen gemacht. "Kleine Patienten verhalten sich sehr unterschiedlich", sagt Freundorfer. Habe ein Kind bei der Behandlung unruhige Augen, will es zusehen. Dann drückt sie ihm einen Spiegel in die Hand oder schaltet den Fernseher an der Decke an. Zucken hingegen die Hände, bekommt es einen Zauberstab oder ein Instrument und darf "mithelfen", während die Zahnärztin ihre Handgriffe erklärt. Auch mit Hypnose arbeitet sie gerne, wie viele Kinderzahnärzte. Besonderes Fingerspitzengefühl erfordern die Eltern: Sie wollen nur das Beste für ihr Kind, aber Sätze wie "Du musst keine Angst haben, es tut bestimmt nicht weh", bewirken das Gegenteil. Solch leere Beschwichtigungen kämen Al­brecht Schmierer nie über die Lippen. Er erklärt seinen Patienten offen, was sie erwartet und wie er ihnen helfen kann. Manchmal teilt er auch seine eigenen quälenden Erinnerungen, das schafft Vertrauen. Manche Patienten sind Schmierer so dankbar, dass sie ihn nach der Behandlung umarmen. "Neulich hatte ich einen Patienten, der 50 Jahre nicht beim Zahnarzt war", sagt Schmierer. Der Patient lobte Schmierer auf seine Weise: Er kam wieder.

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