Nina Himmer

Freie Journalistin, München

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Artikel

"Peter ist weg"

Nur kurz im anderen Raum gewesen. Das Fenster steht offen. Acht Stockwerke tiefer ein kleiner lila Punkt: das Kind. Was ein solcher Moment aus dem Leben einer Mutter macht


Der schlimmste aller Tage beginnt mit Vorfreude: Familie Metz* will aufs Land fahren, im Ferienhaus der Schwiegereltern ein wenig Sonne und Ruhe tanken. Während ihr Mann noch kurz bei der Arbeit vorbeischaut, packt Mutter Sandy zu Hause alles für die Reise zusammen. Windeln, Feuchttücher, Kleidung, Sonnencreme - bei zwei kleinen Kindern werden die Koffer schnell voll. Sie geht in Gedanken durch, was noch fehlt, als auf einmal ihr Sohn Paul hinter ihr steht. "Peter ist weg", sagt er. Die junge Mutter schmunzelt in sich hi­nein. Ihr Jüngster fängt gerade an, sich zu verstecken. Offenbar ist es ihm gerade erfolgreich gelungen. Doch als sie das Kinderzimmer betritt, wird ihr sofort klar, dass Peter sich diesmal nicht unter dem Bett oder im Schrank verbirgt. Das Fenster steht offen, der Tisch davor ist verrückt, die warme Juniluft weht ins Zimmer. An der Tür klingelt es Sturm.

Das schrille Geräusch dröhnt in ihrem Kopf, während sie zum Fenster geht. Auf der Straße, acht Stockwerke tiefer, sieht sie "einen kleinen lila Punkt". Ihr Sohn trägt einen lila Overall. Sie hastet zur Haustür, vor der die Hausmeisterin steht. Die hat von unten beobachtet, dass die Kinder am Fenster hantieren und will die junge Mutter warnen. Doch ein Blick in das Gesicht der Mutter genügt, um zu wissen, dass sie zu spät kommt. Eine Nachbarin bleibt bei Paul, während Sandy Metz hinunter auf die Straße rennt. Auf dem Asphalt liegt Peter und schreit. Er schreit, also lebt er. Für einen winzigen Moment ist die Mutter erleichtert. Sie will ihren Sohn auf den Arm nehmen, doch die Umstehenden halten sie wegen seiner Verletzungen davon ab. Kurz nach ihr treffen die Rettungskräfte ein. Eine Angestellte vom Reisebüro im Erdgeschoss hat den Sturz beobachtet und sie alarmiert. "Bitte helft ihm, dass er am Leben bleibt", denkt Sandy Metz, während die Sanitäter sich über Peter beugen, der noch immer heftig weint und schreit. Sie ruft ihren Mann an, der sofort nach Hause eilt.

Peter wird im Krankenhaus notoperiert. Stundenlang kämpfen die Ärzte um sein Leben, doch es besteht von Anfang an nicht viel Hoffnung: Die Kopfverletzungen sind schwer, die Blutungen kaum zu stillen und das Gehirn beginnt zu schwellen. Nach der Operation wird Peter in ein künstliches Koma versetzt. Es ist unklar, ob er schwerstbehindert überleben oder sterben wird. Die Gewissheit kommt zwei Tage später, am 4. Juni 1997. Nach der gesetzlich vorgeschriebenen Frist zur Hirntoddiagnostik erklären die Ärzte den kleinen Jungen für tot. Es ist 13.30 Uhr, Peter atmet und sein Körper ist warm. Aber er wird nicht mehr aufwachen. Auf der Station herrscht Betroffenheit. Die Eltern sitzen neben dem Bett und wähnen sich in einem Albtraum.

Seit jenem sommerlichen Junitag sind 18 Jahre vergangen. Doch wenn Sandy Metz davon erzählt, nimmt die Erinnerung so präzise Gestalt an, als wäre alles erst ein paar Wochen her. "So etwas vergisst man nie. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Kind zu verlieren." Die 42-Jährige spricht mit ruhiger Stimme und streicht behutsam über das Fotoalbum auf ihren Knien, in dem sich Bilder von rotbackigen und schokoladenverschmierten Kindergesichtern aneinanderreihen. Paul und Peter, für immer gebannt in fröhliche, gemeinsame Momente. Das Album ist so unvollendet wie Peters Leben. Die letzten unscharfen Fotos zeigen seine Beerdigung, den Sarg, die Traueranzeige. Es folgt ein Nichts aus weißen Seiten. Peter wurde nur eineinhalb Jahre alt.

Es ist selten traurig, aber immer selbstverständlich, wenn wir über Peter sprechen

Wie konnte das passieren? Wieso haben Sie nicht besser aufgepasst? Wie konnte das Fenster aufgehen? Diese Fragen hat Sandy Metz oft gehört. Eine Staatsanwältin stellt sie unverhohlen skeptisch noch am Unfallort, später kommen sie von Polizisten und Reportern. In die Verzweiflung der jungen Mutter mischen sich Vorwürfe. "Natürlich zweifelt man an sich selbst und fragt sich, ob man etwas falsch gemacht hat", sagt Sandy Metz. Ihr Kind ist gestorben, während sie mit ihm zu Hause war. Hätte sie besser aufpassen müssen? Hätte sie etwas merken können? Es ist ihr Mann, der trotz des eigenen Schmerzes alle Schuldgefühle im Keim erstickt. "Es ist nicht deine Schuld" sagt er - und wiederholt den Satz immer und immer wieder. Nie kommt ein Wort des Vorwurfs über seine Lippen. So schafft sie es, die nagenden Zweifel abzuschütteln, bevor die Ermittlungen auch offiziell eingestellt werden. Das Ergebnis der Staatsanwaltschaft ist eindeutig: Bei Peters Tod handelt es sich um einen tragischen Unfall, niemand hat Schuld.

Eine Zeit lang schwebt der Konjunktiv trotzdem noch über ihrem Leben. All die Hätte, Wäre und Wenn. Sie will sich davon nicht zermürben lassen, die Gedankenspiele bringen Peter nicht zurück und helfen Paul nicht weiter. Zwei Wochen nach dem Tod des Jüngsten zieht die Familie in eine neue Wohnung, weil sie die alten Räume und das Fenster nicht erträgt. Sandy Metz geht wieder zur Arbeit und schließt sich einer Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern an. Die Gespräche mit den anderen tun ihr gut. Sie findet einen Weg, mit dem Schicksal umzugehen und trifft Entscheidungen, die ihr dabei helfen. Eine davon fällt noch im Krankenhaus: "Uns war klar, dass niemand mehr etwas für uns tun kann. Also haben wir uns gefragt, was wir tun könnten - und haben die Ärzte gefragt, ob wir Peters Organe spenden können." Eine Entscheidung, die den Eltern bis heute Trost spendet. Entsprungen aus dem Wunsch, "die Schärfe der Sinnlosigkeit aus dem Moment zu nehmen." Die Ärzte sind überrascht von der Entscheidung, bringen den Eltern aber Hochachtung entgegen. Sie setzen jenen Y-Schnitt, der Sterbende zu Spendern macht.

Ein vierjähriger Junge bekommt Peters Herz, ein 18 Monate alter Junge seine Leber und ein 16-jähriges Mädchen seine Nieren. "In gewisser Hinsicht lebt Peter in diesen Kindern weiter", sagt seine Mutter. Auch innerhalb der Familie bleibt er lebendig. Obwohl Paul, heute 21, mit Anna (16), Wilhelm (12) und Johannes (2) noch drei Geschwister bekommt, die ihren Bruder nie kennenlernen, ist Peter doch für alle ein Teil der Familie geblieben. Nicht nur, weil die Eltern an seinem Geburtstag einen Luftballon in den meist grauen Novemberhimmel schicken. Sondern auch, weil Peter "irgendwie einfach dabei ist". Manchmal sitzen sie am Küchentisch und überlegen, wie er wohl heute wäre. Was er und Paul alles anstellen könnten. Wie viel Spaß sie miteinander haben würden. Ob er auch den Motorradführerschein gemacht hätte? Ob er sich sein gelassenes Gemüt bewahrt hätte, mit dem er als Kleinkind auffiel? Und ob er mit dem blonden Haar und den blauen Augen seiner Mutter den Mädchen den Kopf verdrehen würde? "Es ist selten traurig, aber immer selbstverständlich, wenn wir über ihn sprechen", sagt die Mutter, die viel innere Ruhe und positive Gelassenheit ausstrahlt. Eine Frau, die ihren Frieden gemacht hat.

Einige Jahre nach Peters Tod trifft sie eine weitere Entscheidung, die eng mit ihrem Sohn verknüpft ist. Sie wird nicht mehr in ihren Bürojob bei der öffentlichen Verwaltung zurückkehren. Eine Bekannte aus der Selbsthilfegruppe hat sie auf die Idee gebracht, sich in der Trauerhilfe selbstständig zu machen. "Du kannst das so gut", sagt die zu ihr. Sandy Metz folgt dem Rat und macht den Tod zu ihrem Beruf. Fortan betreut sie Hinterbliebene, schreibt Trauerreden und arbeitet ehrenamtlich als Notfall-Seelsorgerin. "Jetzt gehen Peter und ich jeden Tag gemeinsam zur Arbeit."

Der Junge steht an ihrer Seite, wenn sie am Grab von Säuglingen spricht. Er ist dabei, wenn sie an der Seite eines Polizisten mit sanfter Stimme Eltern vom Unfalltod eines Kindes berichtet, wenn sie Ehefrauen erklärt, dass ihr Mann nicht mehr von einer Autofahrt zurückkehren wird. Durch ihr eigenes Schicksal hat sie die Fähigkeit erlangt, sensibel mit Trauernden umzugehen, sich für sie stark zu machen, echten Trost zu spenden und passende Worte zu finden. Auch die Selbstzweifel und Vorwürfe vermag sie vielen zu nehmen. "Angehörige fragen sich vor allem nach Unfällen oder Suiziden oft, was sie falsch gemacht haben und warum sie den Tod nicht haben kommen sehen", sagt sie und hält kurz inne. "Da können Peter und ich oft helfen."

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