Der „Moot Court“ in Washington ist der renommierteste Wettbewerb für angehende Juristen. Wer sich hier präsentieren will, braucht Charisma, viel Wissen und starke Nerven. Es ist eine Probe des Ernstfalls - bis die Tränen fließen.
Hätten Gummitiere Gefühle, es wären schmerzhafte Tage für das Schweinchen. So aber erträgt es stoisch, ständig aus der Hosentasche geholt und von nervösen Händen gedrückt zu werden. „Das beruhigt mich irgendwie", sagt Florian Knerr, Betreuer des Münchner „Moot Court"-Teams, und wiegt das winzige Tier in der Hand. Es hat ihn schon durch das Abitur begleitet, saß beim Staatsexamen in seiner Sakkotasche und flog mit nach Washington, als sein Team es einst in die Endrunde des „Moot Courts" schaffte. Warum sollte es nicht auch heute Glück bringen?
Mahja Afrosheh, Celia Diederichs, Clemens Hufeld und Nina Schwartz könnten es jedenfalls brauchen. Die vier Studenten bilden das Team der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München, die in diesem Jahr zum ersten Mal den nationalen Entscheid des „Jessup Moot Courts" ausrichtet. „Moot Court" bedeutet so viel wie fiktives Gericht und bezeichnet einen Wettbewerb für Jurastudenten. Sie bearbeiten dafür einen erdachten Fall und vertreten jeweils eine der beiden Prozessparteien vor einem Gremium aus bekannten Juristen. Die Idee dazu stammt aus den Vereinigten Staaten und fußt auf der Überzeugung, dass Hörsaal und Hausarbeiten allein noch keinen guten Juristen machen. Es gibt Wettbewerbe zu verschiedenen Rechtsgebieten, doch keiner ist so groß, alt und renommiert wie jener nach dem Richter Philip Jessup benannte zum Völkerrecht. Jedes Jahr nehmen rund 90 Länder und mehr als 600 Universitäten daran teil. Wer es zur internationalen Runde nach Washington schafft, darf sich schon im Studium zur juristischen Elite zählen.
Kein Wunder, dass Ninas Hände zittern und Mahja noch mal kurz auf der Toilette verschwindet. Nur wenige Minuten trennen beide von dem Moment, auf den ihr Team fast ein Jahr lang hingearbeitet hat - zuletzt bis zu 100 Stunden in der Woche. Tag und Nacht haben sie Urteile gewälzt, Schriftsätze vorbereitet, Plädoyers simuliert und englische Fachbegriffe gepaukt. Nun gilt es, die Nerven zu behalten.
„Es ist eine Ehre für mich, heute vor diesem Gericht zu stehen"An diesem Vormittag übernehmen sie die Rolle der Ankläger in einem Streit zwischen zwei Staaten, der sich um Massenüberwachung und Spionage dreht. Während sie in einem schmucklosen Seminarraum der Juristischen Fakultät auf ihren Einsatz warten, füllen sich die Zuschauerplätze. Doch kurz vor elf Uhr verebbt das Gemurmel schlagartig, gespannte Stille legt sich über den Raum. Die Richter treffen ein, eröffnen die Verhandlung. Ninas Stichwort: Die 21-Jährige steht auf, strafft ihre Schultern und tritt ans Rednerpult. „Es ist eine Ehre für mich, heute vor diesem Gericht zu stehen", sagt sie und beginnt. In Sekunden verwandelt sich die quirlige junge Frau in eine knallharte Anwältin. 20 Minuten hat sie, um die drei Richter zu überzeugen. Das ist knapp bemessen. Zwar geht es um einen Streit zwischen fiktiven Staaten, doch er dreht sich um sehr reale Fragen: Sind von Whistleblowern geleakte Dokumente als Beweismaterial zulässig? Dürfen Staaten die Politiker eines befreundeten Landes ausspähen? Wie sieht es mit der Massenüberwachung von Bürgern aus? Sind Cyber-Attacken mit einem militärischen Angriff vergleichbar? Und inwieweit ist es zulässig, zum Schutz vor terroristischen Anschlägen in Bürger- und Menschenrechte einzugreifen?
Von Anfang an klingt Ninas Stimme fest und ruhig. Obwohl die Richter kritisch nachhaken, bringt sie keine Frage aus dem Konzept. Flüssig und in einem Oxford-Englisch, dem man ihr Schuljahr auf einem englischen Internat deutlich anhört, schmeißt sie mit Gerichtsurteilen und Artikeln um sich. Als sie nach Ablauf der Zeit an „Co-Agent" Mahja übergibt, ist sie spürbar gelöst. Auch Mahja kann in der Rolle der Anklage überzeugen, souverän argumentieren und ihr Wissen präzise abrufen. Die Gegner hingegen bleiben in dieser Vorrunde blass: Sprachlich und inhaltlich können sie nicht mithalten. Welche Universität sie vertreten, weiß zu diesem Zeitpunkt fast niemand im Raum. Um eine objektive Bewertung zu garantieren, tragen alle Teams nur Nummern.
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