Nikta Vahid-Moghtada

Freiberufliche Journalistin und Redakteurin, Berlin / Leipzig

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Artikel

Proteste im Iran: Es ist unsere Aufmerksamkeit, die schützt

Helfen kritische Stimmen wie diese Demonstrantinnen in Berlin den Menschen im Iran? Unsere Autorin glaubt an die Macht der Aufmerksamkeit, und sorgt sich zugleich um die Menschen vor Ort. © Christophe Gateau/​AP/​dpa

Noch nie zuvor wollte ich so regelmäßig und ernsthaft besorgt wissen, wie es meiner Familie im geht. Was sie denken und fühlen, was sie hoffen und fürchten - und ob sie noch hoffen (Spoiler: Ja!). Und noch nie zuvor war es so unmöglich, eine ehrliche Antwort auf all diese Fragen zu bekommen, eine ehrliche Antwort auf die banalste aller Fragen: "Na, wie geht's?". Selbst wenn das oft heruntergefahrene Internet es zulässt, bleiben die Gespräche an der Oberfläche.

Denn die islamische Republik hat nicht nur an jeder Straßenecke ihre Spitzel, sondern agiert vor allem hinter allen Türen des Netzes. Die Cyber-Armee des Ajatollah Chomeini betreibt nicht nur Regierungs- oder Militärspionage, sie überwacht auch die rund 84 Millionen Iranerinnen und Iraner minutiös - und auch all jene, mit denen diese in Kontakt stehen. Sie will den Menschen das wertvollste nehmen: die Gedanken, die per Messenger, E-Mail, Telefon geteilt werden. Und so bewegen sich auch die Gespräche mit meiner stets im Bereich des Banalen, der sie nicht gefährdet. Man kommuniziert in Chiffren aus Smileys, vagen Aussagen und Katzenbildern. Zumindest dem Kater meiner Cousine scheint es blendend zu gehen.

Als Journalistin mit deutsch-iranischem Hintergrund versuche ich gerade so oft wie nur möglich über die Freiheitsbewegung im Iran zu schreiben. Nachrichtlich, analytisch, aber auch in Form von Meinungsstücken. Das ist die große Aufgabe, der sich viele Exiliranerinnen und -iraner gerade stellen. Je mehr wir hierzulande auf die Situation im Iran aufmerksam machen, je klarer auch dem Regime wird, dass die Augen des Westens auf ihre Gräueltaten gerichtet sind und dass Konsequenzen drohen, desto mehr Schutz ist der Bevölkerung geboten. Zugleich habe ich seit Wochen Angst, meine Familie im Iran damit zu gefährden. Noch mehr als sowieso schon: Selbst wenn ich Bäckerin oder Apothekerin wäre, brächte ich meine Familie mit jeder weiteren Frage, wie sie die Situation im Iran gerade erlebt, in die Bredouille. Jede ihrer Antworten könnte abgefischt werden, kaum ein gängiger Messenger ist wirklich sicher.

"Wann wird es sich gelohnt haben, meine Familie zu gefährden?", das fragte sich im Oktober auch die Deutsch-Iranerin und Journalistin Avin Khodakarim in einem Essay, den sie für die taz geschrieben hat. Beim Lesen dieser Zeilen habe ich Tränen in den Augen, wie so oft dieser Tage. Denn ich kenne den dort beschriebenen Zwiespalt eben nur zu gut. Hinzu kommt noch eine weitere Tatsache, der ich mir genauso bewusst bin wie Avin Khodakarim: Wer sich als Deutsch-Iraner:in hierzulande öffentlich regimekritisch äußert, riskiert bei der nächsten Einreise in den Iran selbst verhaftet zu werden.


Ghormeh Sabzi und Sauerkraut

Um zu erklären, wie viel Angst das iranische Regime auch Menschen in der Diaspora machen kann, springe ich knapp dreißig Jahre in meiner eigenen Geschichte zurück: Ich stehe mit meiner Mutter vor der Haustür eines Dreifamilienhauses im beschaulichen Frankenland. Eine Region, die für ihren Wein bekannt ist, für grüne Hügel, fruchtbare Böden, für frommen Katholizismus und wiederum nicht ganz so frommen Fasching. An diesem Tag in den Herbstferien Anfang der Neunzigerjahre bekommt mein Vater Post. Ein Brief, Absender unbekannt. Der Inhalt: ein Gegenstand - was genau, lässt sich nicht ertasten. Mein Vater befürchtet das Schlimmste, eine Briefbombe, direkt von den Mullahs nach Franken geschickt. Meine Mutter und ich werden also vor die Tür bugsiert und mein Vater verschanzt sich mit dem Brief und der vermeintlichen Bombe im Badezimmer. 15 Minuten später steht er winkend in der Tür. Im Brief steckte der Ersatzschlüssel zum Mazda, den er wenige Wochen zuvor gebraucht gekauft hatte.


Mein Vater ist bereits in den Sechzigerjahren zum Studium nach Deutschland gekommen und wollte danach eigentlich wieder zurück in den Iran. Als dort dann aber die Revolution in vollem Gange war und diese kurze Zeit später von Ajatollah Chomeini gestohlen wurde, stand das nicht mehr zur Debatte. Ich bin Mitte der Achtzigerjahre geboren und bin irgendwo schwimmend – aber wohl mehr deutsch als iranisch – zwischen diesen beiden Kulturen aufgewachsen, zwischen duftendem Ghormeh Sabzi und fränkischem Sauerkraut mit sehr, sehr viel Kümmel. Beides mag ich sehr. Fürs erzkatholische, bayrische Dorf war ich nie deutsch genug, zugleich war ich so wenig iranisch, dass ich, bis auf einzelne Wörter und Floskeln, nie Farsi gelernt habe. Das lag weniger an meinem Vater denn an meiner kindlich-pubertären Sturheit. Was ich jedoch von Anfang an mitbekommen habe: mit wie viel Liebe und vor allem Wehmut mein Vater über seine Heimat sprach. Aber auch, wie viel Angst vor dem Regime in diesen Worten mitschwang.

Erst viele Jahre später habe ich mit meinem Vater über die vermeintliche Briefbombe gesprochen. Das Mykonos-Attentat Anfang der Neunziger steckte damals, als der Mazda gekauft wurde, noch tief in den Gemütern der iranischen Diaspora. Im September 1992, vor ziemlich genau 30 Jahren, ermordete der iranische Geheimdienst im griechischen Restaurant Mykonos in Berlin vier Exilpolitiker. Wenige Jahre zuvor, 1988, wurden im Iran mehrere Tausend politische Gefangene hingerichtet. Die genaue Zahl ist bis heute unbekannt. In diesen Jahren wurden Regimegegner und Flüchtige in der Diaspora bedroht, darunter auch Bekannte meines Vaters. Wer wäre da nicht skeptisch, wenn plötzlich aus heiterem Himmel ein Brief mit unbekanntem Absender ankäme?

Wenn man nun liest, wie aktuell wieder (oder immer noch – denn aufgehört haben die Drohungen nie, nur wurde es eine Zeit lang still ums Thema Iran) iranischstämmige Regimekritikerinnen und -kritiker im Ausland bedroht und angegriffen werden – Salman Rushdie, da klingelt noch was, oder? –, beginnt man schnell, die eigene Sicherheit und die der Familie zu hinterfragen. Das ist die Krux für viele Menschen wie mich: Indem wir versuchen, den Menschen im Iran eine Stimme zu geben und sie so zu schützen, können wir die Kontakte, die wir vor Ort im Iran haben, in Gefahr bringen.

Doch man kann es nicht oft genug sagen: Was die Menschen im Iran schützt, ist vor allem auch unsere Aufmerksamkeit. Solange der Westen seine Augen auf die Gräueltaten des Regimes richtet, können die Proteste nicht im noch größeren Stil niedergemetzelt werden, als sie es sowieso schon werden. Erste verhaltene Reaktionen der Politik sind schön und gut. Aber auf Tweets und Kanzler-Videos, in denen Bestürzung geäußert wird, müssen mehr und weitere Taten folgen. So könnte zum Beispiel auch die EU die Revolutionsgarden als Terrororganisation einstufen. Geschehen ist das aber noch nicht.


"Was glaubst du: Wird sich dieses Mal etwas ändern?", frage ich eine Verwandte. Man hoffe es, kommt zögerlich als Antwort. Wenn sich nichts ändere, sagt sie, werde alles nur noch viel schlimmer. Sie sei stolz auf die Texte, die ich veröffentliche, sagt sie weiter. Sie habe sie mithilfe eines Onlineübersetzers gelesen. Ich habe Tränen in den Augen. Darauf folgt: ein Katzenbild. Der Kater schaut etwas bedröppelt, aber wie immer eigentlich recht zufrieden drein. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass wir eines Tages die Möglichkeit haben werden, frei zu sprechen – den Kater streicheln und uns in den Armen liegen können.

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