Die Rufe nach Lockerungen der Corona-Maßnahmen werden immer lauter. Fußballstadien sollen voller, Veranstaltungen möglicher und das Leben wieder normaler werden. Länder wie Dänemark, wo die Corona-Beschränkungen kürzlich weitgehend aufgehoben worden sind, machen es vor. Nun zieht zum Beispiel auch die Schweiz nach und hebt die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zumindest teilweise auf. Die "akute Krise" sei bald zu Ende, heißt es in einer Mitteilung der Schweizer Regierung. Aber ist sie das - zu Ende?
Auf deutscher Seite blickt man nicht ganz so gelassen gen herbeigesehnte endemische Phase, sprich Ende der Pandemie - und so hat auch die Bundesregierung am Mittwoch ihre Ablehnung einer schnellen Aufhebung von Corona-Beschränkungen bekräftigt. Die Voraussetzung für Lockerungen von Corona-Maßnahmen seien sinkende Fallzahlen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Im Augenblick gebe es noch einen erheblichen Anstieg. Der Höhepunkt der Welle stehe noch aus. Erst wenn sich positive Entwicklungen in den Kliniken und auf den Intensivstationen verstärkten, könne man auch wieder über Lockerungen sprechen. Mit Blick auf die Intensivstationen rät auch Virologe Alexander Kekulé zu Geduld: "Wie schlimm der Anstieg der Omikron-Patienten wird, werden wir innerhalb der kommenden zwei Wochen sehr deutlich sehen", sagte er im jüngsten Corona-Kompass. Noch gleiche die Situation einem "Spiel mit dem Feuer".
Der Präsident des Verbands der Leitenden Krankenhausärzte, Michael Weber, beschreibt trotz steigender Inzidenzen in Deutschland eine relativ entspannte Lage auf den Intensivstationen, "mit etwas über 2.000 Fällen und langsam sinkender Tendenz". Erhöht habe sich aber die Zahl der Corona-Patienten auf den Normalstationen, sagt Weber auf MDR-Anfrage. "Die Hospitalisierungsrate liegt mit 4,77 im mittleren Bereich einer dreistufigen Krankenhaus-Ampel, ist aber weiter ansteigend."
Auch Weber unterstreicht jene Aussage, die Hoffnung auf eine Verschiebung pandemischer Verhältnisse hin zur Endemie schürt: Die Verläufe seien insgesamt milder. "Intensivfälle kommen derzeit nur noch vereinzelt bei Ungeimpften vor." Die Einstufung von Omikron als milde Variante sei deshalb für Ungeimpfte nicht ohne Risiko, sagt der Mediziner.
Einer, der die Situation aus Sicht der Labore, die für die Auswertung der PCR-Tests zuständig sind, bewerten kann, ist Andreas Bobrowski. Der Vorsitzende des Berufsverbands der Deutschen Laborärzte ist im norddeutschen Lübeck tätig - dort, wo die Omikron-Welle zunächst mit voller Wucht auftraf.
In den vergangenen Tagen habe sich die Situation etwas entspannt, sagt Bobrowski. Auch die Test-Einsendungen seien leicht zurückgegangen - an den Inzidenzen mache sich das wegen der langen Nachmeldekette noch nicht bemerkbar. "Was nach wie vor sehr hoch ist, ist die Positivrate". Die liege zwischen 30 und 40 Prozent. Von einer Überlastung der Labore könne er aber nicht sprechen. Auch von Kolleginnen und Kollegen aus Laboren in Mitteldeutschland habe er nichts Gegenteiliges gehört. Ob er das Gefühl habe, die Corona-Lage entspanne sich? Er äußert sich verhalten, doch sei die Situation nicht so ernst wie in den vergangenen Wellen. "In der Vergangenheit waren wir wesentlich mehr unter Druck, weil wir auch wussten, die Verläufe sind schwer, wenn wir nicht rechtzeitig liefern, kann das dazu führen, dass Patienten zu Schaden kommen", sagt der Mediziner.
Markus Scholz ist Professor am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie der Uni Leipzig. Er erstellt Modelle zum Verlauf von SARS-CoV-2 und betrachtete die vierte Welle bereits Ende November 2021 mit großer Sorge. Auch heute hat sich sein Blick aufs Infektionsgeschehen nicht unbedingt geändert. "Nach unseren Modellsimulationen erwarten wir im Zuge der Omikron-Welle selbst unter optimistischsten Annahmen eine ähnliche Belastung der Normalstationen wie unter der Delta-Welle", sagt Scholz dem MDR. Den Höhepunkt der Welle sieht er in wenigen Wochen. Von einer erneuten Überlastung der Intensivstationen gehe er zwar nicht aus, doch sei in den Kliniken "durch hohe Krankenstände bei ungebremstem Durchlaufen der Welle mit hohen Personalausfällen zu rechnen".
Von Lockerungen rät Scholz ab. Auch an den Quarantäneregeln sollte nichts geändert werden, sagt er. Und: "Die Testfrequenz an Schulen sollte mindestens beibehalten, wenn nicht gar erhöht werden, um Familien vor Einträgen aus dem Schulbereich wenigstens etwas zu schützen." Sehr deutlich machte der Leiter des DIVI-Intensivregisters Christian Karagiannidis seine Meinung auf Twitter: Mittlerweile lägen die ersten Omikron-Patientinnen und Patienten mit schwerem Lungenversagen auf den Intensivstationen, schreibt er. Während Ungeimpfte bisher durch die staatlichen Maßnahmen geschützt worden seien, bräche dieser Schutz durch die Lockerung der Beschränkungen bei anhaltender Impflücke weg: Lockerungen würden daher "aber wieder mehr Ungeimpfte auf Intensivstation führen mit der Hauptdiagnose Covid und Lungenversagen".
Auch der Labormediziner Andreas Bobrowski äußert sich nur vage zum Thema Lockerungsmaßnahmen: "Da schauen wir jetzt mal zu den Dänen", sagt er. Das Land bezeichnet er als "großes Experimentierfeld", und fügt hinzu: "Staatliche Lockerungsmaßnahmen sind auch nur ein Angebot, dass man sagt: Man schaut als Staat nicht mehr so genau hin und übergibt die Verantwortung an die Bürgerinnen und Bürger." Die, und da sei der Haken, müssten damit auch umgehen können.
Auch Michael Weber blickt gespannt aufs Experiment Dänemark. "Je nach Verlauf können wir dann vielleicht vieles nachmachen. Je mehr sich impfen lassen, umso schneller und sicherer." Er sieht den Zeitpunkt für Lockerungsmaßnahmen dann gekommen, "wenn die Inzidenzen wie erwartet steil abfallen". Das, sagt er, sollte voraussichtlich in wenigen Wochen der Fall sein. "Allerdings scheint mir ein Wegfall der Maskenpflicht - wie jetzt in Dänemark - das falsche Signal, weil gerade diese Maßnahme kaum beeinträchtigt und gerade bei Omikron besonders wirksam ist."