Kaum eine Branche wird von der Corona-Krise so sehr in Mitleidenschaft gezogen wie der Kultursektor. Theater und Kinos haben geschlossen, Konzerte finden nicht statt, Diskotheken sind dicht. Was für die einen nebensächliche Freizeitbeschäftigung ist, ist für wiederum andere mehr als relevant. Für Jugendliche oder junge Erwachsene etwa gehört die Möglichkeit, sich zu treffen und auszutauschen - in Clubs, Bars oder Kneipen - als selbstverständlich zum Alltag. Was passiert, wenn diese Möglichkeit wegbricht und die Welt, wenn überhaupt, nur noch auf dem Touchscreen des Smartphones greifbar ist?
Wie blicken sie auf die Zukunft? Warum können gewisse Bedürfnisse - wie jene nach kulturellen Veranstaltungen - nicht digital befriedigt werden? Und wie wirkt sich die Pandemie auf das Zeitempfinden junger Menschen aus? Im Interview spricht der Soziologe über die besonderen Herausforderungen, vor die junge Erwachsene in der Corona-Pandemie gestellt werden.
Warum ist die Zeit, in der wir gerade leben, eine so besondere – für Menschen aller Altersgruppen?
Eine solche Pandemie, die so gut wie alle Länder dieser Welt betrifft, hat es in der Lebenszeit der heutigen Menschen noch nie gegeben. Das nimmt allen in vielen Bereichen das Gefühl von Sicherheit. Auch der Umgang mit der Pandemie, also die Corona-Einschränkungen, haben den Lebensalltag aller Menschen in nahezu allen Bereichen des Lebens getroffen und radikal verändert. Die Medien sind tagtäglich mit schlechten Nachrichten gefüllt und man wird ständig an die Existenz der Pandemie erinnert.
Sie setzen in Ihrer Forschung den Fokus auf die junge Generation bzw. auf junge Erwachsene. Warum bedeutet die Krise für junge Menschen etwas anderes als für ältere?
Der Unterschied liegt darin, was im Leben noch bevorsteht und was schon erreicht worden ist. Dementsprechend verändert sich die Sichtweise auf die Situation. Junge Erwachsene haben wichtige, weichenstellende Entscheidungen für ihr Leben zu treffen, in beruflicher wie privater Hinsicht.
Kann die Pandemie ganze Lebenswege verändern?
Die Pandemie verändert die Eckdaten für zum Beispiel berufliche Entscheidungen; ganze Branchen und Bereiche stehen vor einer schwierigen Situation, auch der Kultursektor, viele Bereiche des Freizeitlebens. Wer sich in der Vergangenheit vielleicht überlegt hat, in solchen Bereichen tätig zu werden, steht nun vor der Frage: Kann ich diese Unsicherheit eingehen?
Und im privaten Bereich?
Es ist das Alter, in dem man den Partner oder die Partnerin findet, in dem man über eine eigene Familie nachdenkt. Wer in einer beruflich unsicheren Situation ist, verschiebt die Kinderplanung womöglich auf einen späteren Zeitpunkt.
Das Zeitempfinden ist ein anderes, weil die Pandemie das Gefühl gibt, dass man eine wichtige Zeit des Lebens verpasst. Prof. Dr. Michael Corsten Soziologe an der Universität Hildesheim
Stimmt. Aber wer noch keinen Partner hat, mit dem er Kinder planen könnte, steht vor ganz anderen Problemen…
Natürlich, junge Leute wollen feiern und andere Menschen kennenlernen. Aber auch das steht unter dem Vorzeichen der Unsicherheit und schränkt die Gestaltungsmöglichkeiten enorm ein. Wenn es Kontaktbeschränkungen gibt, wenn es weniger Feiern und Partys und Freizeitmöglichkeiten gibt, wo soll man dann Menschen kennenlernen, in die man sich verlieben könnte? Man ist zur Untätigkeit verurteilt, obwohl vielleicht gerade jetzt biographische Entscheidungen oder auch Experimente anstünden. Das Zeitempfinden ist ein anderes, weil die Pandemie das Gefühl gibt, dass man eine wichtige Zeit des Lebens verpasst.
Schon während des ersten Lockdowns gab es diverse Online-Angebote: Vom Konzert, übers Theater bis hin zum Clubbesuch war vieles digital möglich. Ist das ein Ersatz?
Sicherlich kann man viele Dinge auch online tun. Man kann auch online kommunizieren und in vielen Bereichen macht das auch Sinn. Aber es gibt Bedürfnisse, die sich digital nicht befriedigen lassen. Das wird jungen Menschen im Moment bewusst.
Wir haben eine Gruppe erneut befragt, die wir zwischen 2014 und 2017 schon einmal für ein Projekt zu digitalen Verbreitungsmedien interviewt hatten. Damals haben wir sie als "digitale Pioniere" interviewt. Jetzt haben wir festgestellt, dass die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten im Moment als ein Notbehelf wahrgenommen werden und dass sie Präsenzerfahrungen aber nicht ersetzen können. Das, was man früher neugierig experimentell im digitalen Raum betrieben hat, das erfährt jetzt eine Abwertung. Der einfache, normale Kontakt, zum Beispiel ein Treffen im Café, wird zu einem großen Erlebnis. Der banale Alltagsvorgang erfährt in dieser Zeit eine gravierende Umwertung.
Was bedeutet das für kulturelle Veranstaltungen?
Auch Konzerte oder Partys lassen sich nicht digital transportieren. Ein Heavy-Metal-Konzert ist digital eben kein Heavy-Metal-Konzert, weil die Zuschauerpräsenz und die Interaktion mit dem Publikum nicht stattfinden. Das Kollektiverleben, das Menschen aber sonst in diesem Kontext suchen, wird digital nicht ermöglicht.
Dinge, die uns bisher ganz selbstverständlich erschienen, sind nun nicht verfügbar.
Es ist genau dieses nicht Zugängliche der analogen Welt, das die Erfahrung des Unverfügbaren bei der jungen Generation prägnant macht. Damit einher geht auch eine Erfahrung der Passivität. Das steht ganz konträr zur modernen oder spätmodernen Erfahrung von Beschleunigung, von Gestaltung, Kreativität und Singularität. Wir können uns im Moment nicht als etwas Besonderes inszenieren. Das, was die moderne Gesellschaft eigentlich ausmacht - die Fähigkeit, produktiv, kreativ und flexibel zu sein - wird enorm eingeschränkt. Vor allem die jungen Milieus in der Gesellschaft, man spricht hier von den Performern und den Expeditiven, werden in der Pandemie enorm gebremst.
Wir können uns im Moment nicht als etwas Besonderes inszenieren. Prof. Dr. Michael Corsten Soziologe an der Universität Hildesheim
Performer und Expeditive – können Sie diese Begriffe bitte erklären?
Als Performer bezeichnet man einen Teil der jungen Erwachsenen, die einerseits erfolgsorientiert sind, auch nach modernen "coolen" Karrieren streben, dies andererseits aber mit einem flexiblen und gesellschaftlich toleranten, kosmopolitischen Lebensstil kombinieren. Sie leben in Städten wie London, weil sie dort in der Finanzwelt arbeiten können, aber auch an einem global pluralisierten Kulturraum teilhaben können. Expeditive sind weniger karrierebewusst, aber kreativ und neugierig, an der Entdeckung von unbekannten Kulturen interessiert. Das können Fernreisen sein oder auch Formen einer alternativen - womöglich schrägen oder schrillen - Kulturszene. Auch das selber machen von Kultur oder Kunst spielt eine wichtige Rolle für die Expeditiven.
Welche Rolle spielt dabei die Selbstbestimmung des eigenen Lebens?
Es wird ungewiss, ob der Lebensbereich, für den ich mich interessiere, oder der Bereich in der Gesellschaft, in dem ich gerne aktiv werde, weiter in der bekannten Form besteht. Dabei kommt natürlich die Frage auf, wer darüber bestimmt? Dazu gehört vieles im Kulturbereich, der stark eingeschränkt wurde. Performen, Theater, Kunst - all das ist nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt möglich. Dem Einzelnen wird gewissermaßen das Recht entzogen, über die Wichtigkeit dessen mitzuentscheiden. Ich kann nicht mehr in derselben Weise mitbestimmen, was wichtig ist und was nicht. Es wird bestimmt, was systemrelevant und was nicht ist. Das sieht man an der Debatte um die Systemrelevanz des Kulturbereichs.
Kann die Krise den Blick auf die Zukunft verändern?
Ja, vielleicht lässt sich ein anderer Umgang mit der Zukunft zu erleben - auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Man muss sich auf Provisorien, aufs Warten und Geduld einlassen, Dinge vorsichtig angehen. Es kann sein, dass im Warten etwas entdeckt wird, das auch gestaltbar ist - aber eben auf andere Weise. Aus der Erfahrung der Passivität könnte es eine Wendung geben zu einer anderen Lebensweise.
Wonach sehnen sich die Befragten am meisten?
Ich glaube es sind taktile Erfahrungen - also alles Greifbare. Die taktile Wahrnehmung wird in der Krise am meisten eingeschränkt. Man überlegt ja schon, was man macht, wenn man im Supermarkt irgendetwas berührt hat. Muss man es kaufen, oder kann man es guten Gewissens wieder zurücklegen? Alles Körpernahe gerät in Verdacht. Dieses Misstrauen gegenüber Körpererfahrung und Nähe ist problematisch. Man sehnt sich ja eigentlich nach einem Zustand, in dem das Taktile und Nahe auch wieder unbeschwert wahrgenommen werden kann. Darunter leiden am Ende auch die Vertrauensbeziehungen. Dafür sind junge Menschen sehr sensibel.
Berührungen sind fürs Zwischenmenschliche wichtig, aber das Greifen ist wichtig für die Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Man will die Welt "begreifen" - im wahrsten Sinne des Wortes. Man möchte Dinge mit den Händen greifen, um sich der Wirklichkeit dieses Dinges zu überzeugen.