Es gibt diverse Grundbedürfnisse im Leben eines Menschen: nach Essen, nach Schlaf - und auch nach Sexualität. Was tun, wenn man bei der Erfüllung dieser Bedürfnisse Unterstützung benötigt? Für Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung sollte ein selbstbestimmtes Leben - und dazu gehört das Ausleben sexueller Bedürfnisse - selbstverständlich sein. Was selbst in Zeiten ohne Corona in Deutschland noch lange nicht alltäglich ist, leidet in Zeiten der Pandemie mehr denn je. Das weiß auch Tamara Solidor aus Leipzig. Sie arbeitet in ganz Deutschland als Sexworkerin, auch im Bereich Sexualbegleitung. "Als Sexualbegleiterin sehe ich meine Aufgabe darin, Menschen auf ihrem Weg, ihre eigene Sexualität zu finden und leben zu können, zu begleiten. Da gehe ich ein Stück Weg mit ihnen mit, soweit sie mich eben lassen und brauchen", erklärt sie.
Auch in Pflegeeinrichtungen wie Hospizen hat sie Klientinnen und Klienten - normalerweise. Solidor unterstützt dort unter anderem auch Menschen, die sich kurz vor dem Lebensende noch eine sexuelle Erfahrung wünschen. Ihnen gerade nicht helfen zu können, breche ihr das Herz, sagt sie.
Aus Infektionsschutzgründen ist der Zutritt zu Pflegeeinrichtungen gerade nicht gestattet. Für Sexualbegleiterinnen und -begleiter herrscht Berufsverbot. In Wohnheimen und Pflegeeinrichtungen gelten mit die strengsten Hygienevorschriften überhaupt. Wer Sexualbegleitung möchte, muss auf bisher unbestimmte Zeit warten. "Oft verstehen meine Klienten gar nicht, warum ich sie gerade nicht besuchen kann", sagt Tamara Solidor, die sich im Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen engagiert. Vor Corona sei sie stets mobil gewesen, hat ihre Kundinnen und Kunden zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen getroffen. "Meine Arbeit besteht darin, dass ich unterwegs bin und Menschen treffe. Jetzt sitze ich 24/7 in meiner Wohnung, treffe keine Menschen und verdiene kein Geld mehr." Für Solidor ist das, wie sie sagt, der "Super-GAU".
Vor dem selben Problem steht Monika. Sie möchte nicht, dass ihr Nachname genannt wird. Die 50-Jährige lebt und arbeitet als Sexualbegleiterin in Berlin, hauptsächlich mit Menschen, die kognitiv eingeschränkt sind. Oft fehle das Verständnis für die aktuelle Situation. "Viele Ratsuchende wollen zum Beispiel einfach nur kuscheln und in den Arm genommen werden, aber das geht nicht." Oft erfolge der Griff zum Telefon: "Ein Mensch, den ich betreue, ruft mich mehrmals täglich an und will immer wissen, wie lange es noch dauert, bis ich ihn wieder besuchen kommen kann", erzählt sie. Fragen, die zum jetzigen Zeitpunkt niemand beantworten kann. Wiederum andere, die schreiben könnten, suchten die Kommunikation über Nachrichtendienste wie Whatsapp. "Er schickt mir dann Fotos und fragt auch: Hast du noch ein Foto? Da ist eine sehr große Sehnsucht", sagt Monika. Und nach einem Jahr Corona merke sie mehr denn je: "Wir werden gebraucht, dahinter mache ich mehrere Ausrufezeichen."
Arbeit unter Hygienebestimmungen, ist das möglich? Für Monika ist das schwer vorstellbar. Es sei sehr schwer, mit anderthalb Metern Abstand zu arbeiten, sagt sie. Tamara Solidor hingegen könnte sich, sobald es die Infektionslage zulässt, vorstellen, auf Abstand und mit Maske zu arbeiten. "Aber es ist natürlich kein Normalitätserlebnis", sagt sie. Auch habe sie Sorge, einige ihrer Klienten zu verwirren, wenn sie plötzlich mit Maske und Handschuhen arbeite. "Das erzählen mir auch viele Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen. Die Menschen verstehen nicht, warum - wenn zum Beispiel die Mutter oder Schwester zu Besuch kommt - sie alleine mit viel Abstand in einem Raum sitzen müssen, warum die Familienmitglieder nicht angefasst werden dürfen. Das Begreifen ist gar nicht da." Daher wäge sie von Fall zu Fall ab, wie groß der tatsächliche Nutzen für den Klienten wäre.
Verwirre ich den Menschen am Ende noch mehr dadurch, dass ich mit Maske und sonstigen Hygienemaßnahmen anrücke? Tamara Solidor, Sexworkerin und Sexualbegleiterin
Auch während der zwei Monate Lockerungen im Sommer habe sie nicht als Sexualbegleiterin gearbeitet, sagt Tamara Solidor. Das Risiko sei zu hoch gewesen: "Die meisten meiner Kunden sind Hochrisikopatienten. Und die überlegen sich natürlich dreimal, wer wo, wie und wann wen trifft", sagt die Leipzigerin. Dazu komme der finanzielle Faktor: Oft könne ihre Dienstleistung im Moment nicht bezahlt werden. "Oft unterstützen Familienmitglieder die Sexualbegleitung. Wenn die gerade aber selbst nichts verdienen, dann ist natürlich auch kein Geld für eine sexuelle Dienstleistung da", weiß Solidor aus Erfahrung.
Zwar habe sie auch Angst davor, sich selbst zu infizieren, doch sei die Angst, ihre Kundschaft anzustecken, größer: "Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn dieser Mensch schwer erkrankt oder vielleicht stirbt. Ich gehe davon aus, dass ich die Krankheit wahrscheinlich wegstecken könnte. Aber dass meine Kundschaft aus dem Bereich Sexualbegleitung es einfach so wegsteckt, das weiß ich nicht."
Sie hoffe nun, dass ihre Kundschaft als Hochrisiko-Gruppe bald geimpft würde und sie hoffentlich wieder arbeiten könne, sagt Tamara Solidor. Und fürchtet: "Da ich mich gerade verschulde, werde ich die nächsten Jahre arbeiten müssen bis zum Umfallen."
Gerade sage ich mir jeden Monat: So, das war der letzte, danach geht's nicht mehr.
Tamara Solidor, Sexworkerin und SexualbegleiterinDer Mensch, mit dem sie zusammenlebe, komme momentan für sie und ihre Kinder auf. "Ich versuche, nicht zu sehr darüber nachzudenken. Das ist so ein Funktionspragmatismus, den man entwickelt, auch wenn Kinder da sind. Es muss ja weitergehen", sagt Solidor, die trotz der verzwickten Lage ihren Humor nicht verloren hat.
Kein Raum für digitale Experimente
Digitales Arbeiten mag im Bürojob funktionieren, in der Sexarbeit und erst recht in der Sexualbegleitung ist es kaum umsetzbar. Das berichten beide Befragten. Online oder telefonisch zu arbeiten, sei für sie nicht möglich, sagt Monika - auch wenn sie viel mit ihren Klientinnen und Klienten spreche. Was fehle, sei die Körpersprache und die körperliche Arbeit: "So wie ich arbeite, geht es viel um Berührung", sagt sie. Auch für Tamara Solidor kommt digitales Arbeiten in der Sexualbegleitung nicht in Frage. Oft fehle es ihren Kundinnen und Kunden an technischen Mitteln und der Fähigkeit, diese eigenständig zu bedienen. Man scheitere auch am Zugang zu gängigen Paysex-Plattformen, sagt Solidor. "Selbst wenn Menschen, die im betreuten Wohnen leben, Zugang zu einem eigenen Rechner und Internet haben, was so gut wie nie der Fall ist, verhindern Firewalls den Zugang zu solchen Plattformen."
Tamara Solidor und ihre Berliner Kollegin Monika bleibt nur die Hoffnung, bald wieder arbeiten zu können - analog, nicht digital. "Nicht nur wegen des Geldes", sagt Monika. Sie fühle sich zu ihrer Arbeit berufen und hofft, ihren Klientinnen und Klienten bald wieder helfen zu können.