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Von Löwen, Hyänen und "Abschaum"

Pressefreiheit in Brasilien von Niklas Franzen

Einen Leibwächter, sagt Patricia Campos Mello, habe sie nie gebraucht. Weder in Syrien noch in Afghanistan oder Libyen, wo sie als Kriegsberichterstatterin arbeitete. Doch als sie im Oktober 2018 in ihrer Heimatstadt São Paulo über die brasilianische Präsidentschaftswahl berichtete, konnte sie nur noch bewacht auf die Straße. „Es ist surreal, dass ich wegen meiner Texte einen Bodyguard brauchte - um über die Wahl in einem demokratischen Land zu berichten", sagt Mello.

Die renommierte Journalistin der Tageszeitung „Folha de São Paulo" hatte am 18. Oktober - kurz vor der Stichwahl um die brasilianische Präsidentschaft - eine Recherche mit pikanten Informationen veröffentlicht. Demnach sollen Unternehmen illegalerweise über WhatsApp massenhaft Nachrichten verschickt haben, die sich gegen die Arbeiterpartei PT richteten. Das Ziel: dem ultrarechten Politiker Jair Bolsonaro zum Wahlsieg verhelfen.

Die Reaktion auf Mellos Artikel ließ nicht lange auf sich warten. Bolsonaro-Fans fluteten die Profile der 44-Jährigen und hackten zwischenzeitlich sogar ihr Handy. Mello und ihre Familie erhielten tausende Morddrohungen, und Rechte riefen dazu auf, alle öffentlichen Veranstaltungen zu stören. Die wildesten Fake-News wurden verbreitet. Der damalige Kandidat und heutige Präsident Bolsonaro verbreitete auf Twitter viele der Verleumdungen weiter. Der Fall ist emblematisch für das Verhältnis zwischen ihm und den Medien.

Bereits im Wahlkampf hatte der Ex-Militär immer wieder gegen die traditionellen Medien gehetzt. Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump kommuniziert Bolsonaro fast ausschließlich über die sozialen Medien, wo er Millionen Follower und eine riesige Reichweite hat. Insbesondere gegen die liberale Tageszeitung „Folha de São Paulo", das größte Blatt Brasiliens, teilte er hart aus. So war er kurz vor der Wahl per Handy live zu einer Wahlkampfveranstaltung zugeschaltet. In seiner typisch cholerischen Art brüllte Bolsonaro, dass „Folha de São Paulo" die „größte Fake-News Brasiliens" sei, und drohte der Zeitung, die staatlichen Anzeigen zu streichen. Auch anderen Medien warf er im Wahlkampf vor, ihn zu „massakrieren", und drohte mit Konsequenzen. Fernsehdebatten blieb er - mit Verweis auf seine Gesundheit - fern. Interviews gab er fast ausschließlich dem evangelikalen Fernsehsender Record TV.

Presse als Hyänen

Seit einem Jahr ist Bolsonaro nun im Amt. Wie steht es um die Medien im größten Land Lateinamerikas? „Das Verhältnis zwischen Journalisten und der Regierung hat sich extrem verschlechtert", sagt Marcelo Träsel. Er ist Journalismus-Professor aus der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre und wurde kürzlich zum Präsidenten der Brasilianischen Assoziation des Investigativen Journalismus (ABRAJI) gewählt. Auch vor Bolsonaro Aufstieg habe es Konflikte zwischen Regierungsvertreter*innen und Medien gegeben, sagt Träsel. Aber stets seien ein gewisses Maß an Respekt und bestimmte Normen eingehalten worden. „Vorher gab es Kritik an bestimmten Medien, aber keine direkten Angriffe auf einzelne Journalisten."

Die Fakt-Checking-Seite „Aos Fatos" hat zwischen 1. Januar und 11. Oktober 162 Angriffe von Bolsonaro auf Journalist*innen und Medien gezählt. Im gleichen Zeitraum verteidigte der Präsident nur 18 Mal die Pressefreiheit. Bolsonaro bezeichnete „einen Großteil der Medien" als „unsere Feinde". Ein anderes Mal erklärte er, dass ein kritischer Journalist „eigentlich verhaftet werden müsste." Ende Dezember sagte er Journalist*innen, die sich nach Ermittlungen gegen seinen Sohn Flávio erkundigen wollten, dass sie „still sein" sollen, und einem Reporter, dass er aussehe wie ein „schrecklicher Homosexueller".

Ende Oktober teilte Bolsonaro auf Twitter ein skurriles Video, das einen Ausschnitt aus einem Naturvideo zeigt. In dem Video wird ein Löwe von Hyänen gejagt: Der Löwe soll Bolsonaro darstellen, die Hyänen sind linke Parteien, der Oberste Gerichtshof - und die Presse. Deutlicher konnte Bolsonaro seine Verachtung für die Medien und die demokratischen Institutionen nicht ausdrücken.

Drohungen, Klagen, Angriffe

Laut „Aos Fatos" nehmen die Angriffe auf Medien in Krisenzeiten zu, etwa als die Feuer im Amazonas ausbrachen und die brasilianische Regierung international in der Kritik stand. Mindestens elf Journalist*innen wurden laut Journalistenverband FENAJI persönlich von Bolsonaro angegriffen. Eine davon ist Patricia Campos Mello. „Natürlich hatte ich nach den Attacken Angst", sagt Mello, die für „Folha de São Paulo" vor allem über Wirtschaftsthemen und internationale Politik schreibt. „Es war der Versuch, mich gezielt für meine Berichterstattung zu diskreditieren. Das ist typisch in Ländern mit autoritären Führern." Der Präsident hat sie wegen ihres Textes über die illegale Wahlkampfwerbung auch verklagt. Die Journalistin meint, die Angriffe gegen sie seien heftiger, weil sie eine Frau ist. „Die Attacken gegen weibliche Journalistin haben in Brasilien einen klar misogynen Unterton."

Wie lebt es sich in dieser zugespitzten Situation als Journalist*in in Brasilien? Mello sieht keine Selbstzensur, im Gegenteil: Viele Journalist*innen würden nach Angriffen erst Recht kritisch berichten. „Aber wir denken mehr darüber nach, welche Konsequenzen unsere Texte haben und wie sie uns diesmal angreifen." Außerdem sei es ein Problem für die Berichterstattung, dass Regierungsvertreter*innen bestimmte Medien meiden. Ein Großteil der Regierung behandelt Journalist*innen wie Feinde. Kritische Reporter*innen und bestimmte Medien wurden von Pressekonferenzen ausgeladen. Mehrere Journalist*innen berichteten, dass sie während der Amtseinführung von Bolsonaro „wie Tiere" behandelt worden seien: Sie mussten im Presseraum auf dem Boden arbeiten, weil es keine Stühle gab, hatten kaum die Möglichkeit, Toiletten zu benutzen, und kein Trinkwasser bekommen.

Und es bleibt nicht bei verbalen Attacken. Im Wahlkampf nahmen die körperlichen Angriffe auf Journalist*innen stark zu - die meisten geschahen durch Anhänger*innen von Bolsonaro.

Ein Dekret als Waffe gegen missliebige Medien

Auch im Kongress übt die Regierung Druck auf die Medien aus. Per Dekret wollte Bolsonaro Unternehmen verbieten, ihre Umsätze in Zeitungen zu veröffentlichen, wie es ein Gesetz aus dem Jahr 1976 vorschreibt. Viele Printmedien sind auf diese lukrativen Anzeigen angewiesen. Das Dekret verschlechtert somit die finanzielle Situation vieler Zeitungen und Magazine.

Bolsonaro brachte die Gesetzesinitiative einen Tag, nachdem das Wirtschaftsmagazins „Valor Econômico" über Ermittlungen gegen seinen Sohn berichtet hatte, auf den Weg. Ironisch erklärte Bolsonaro: „Ich hoffe, dass ‚Valor Econômico' das Dekret überlebt." Zwar kam es nicht zur Abstimmung, da das Dekret als verfassungswidrig eingestuft wurde. Doch Bolsonaro hat bereits erklärt, im neuen Jahr einen veränderten Text einbringen zu wollen. Den Journalismus-Professor Träsel erinnert die Initiative an den ungarischen Präsident Viktor Orbán, der in seinem Land kritische Medien finanziell trockengelegt hat.

Auch Bolsonaros Lieblingsfeindin „Folha de São Paulo" wurde in den vergangenen Monaten weiter angegriffen. So ließ Bolsonaro alle Abos seiner Regierung kündigen. Dies geschah in derselben Woche, in der US-Präsident Trump erklärte, die Abos von „New York Times" und „Washington Post" im Weißen Haus abzubestellen.

Bolsonaro behauptet, es sei seinen Mitarbeiter*innen weiterhin freigestellt, sich die Zeitung am Kiosk zu kaufen. Jedoch warnte er seine Unterstützer*innen wiederholt vor dem Blatt, da es seine Regierung mit Lügen „vergifte" und ihn falsch zitiert habe. Auch andere Regierunsvertreter*innen riefen zum Boykott kritischer Medien auf. Das Außenministerium, das vom einem Mann geleitet wird, der den Klimawandel für eine marxistische Verschwörung hält und der den Nationalsozialismus als links bezeichnet, entfernte die „Folha de São Paulo" ganz aus der täglichen Presseschau für seine Mitarbeiter*innen.

Journalismus-Professor Träsel meint: „Seit der Redemokratisierung Brasiliens hat es nicht solche Versuche gegeben, ein einzelnes Medium zu vernichten." Doch der Schuss gegen die „Folha de São Paulo" ging nach hinten los: Viele Brasilianer*innen stiegen nicht auf die Hetze der Regierung ein, sondern solidarisierten sich mit der Zeitung und schlossen Abos ab. Patricia Campos Mello gewann mehrere Journalismus-Preise, unter anderem den „International Press Freedom Award", der jährlich in New York vergeben wird.

Neben „Folha de São Paulo" steht ein weiteres Medium im Fokus der Regierung: das mächtige Globo-Netzwerk. Bereits im Wahlkampf hatte Bolsonaro gegen Globo ausgeteilt, doch Anfang November eskalierte der Konflikt. In der abendlichen Nachrichtensendung „Jornal Nacional" hatte der Fernsehsender Bolsonaro mit dem Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco in Verbindung gebracht. Nach den Vorwürfen meldete sich Bolsonaro mit einem Live-Video aus Saudi Arabien zu Wort, stritt tobend alle Vorwürfe ab, beschimpfte Globo als „Abschaum" und nannte den Sender „verfault, schweinisch, eklig, amoralisch und schamlos". Außerdem drohte er ihm an, seine Sendelizenz im Jahr 2022 nicht zu verlängern. Lizenzen für TV und Radio müssen in Brasilien regelmäßig von staatlicher Seite verlängert werden.

Eigentlich ist das Medienimperium streng konservativ. Es hatte mit seiner Berichterstattung großen Anteil an der Amtsenthebung der sozialdemokratischen Präsidenten Dilma Rousseff und der Haft von Ex-Präsident Lula - und somit auch am Wahlsieg von Bolsonaro. Doch im Wahlkampf war Globo auf Distanz zu dem Rechtsradikalen gegangen und hatte überraschend kritisch berichtet. Während Globo früher vor allem von Linken für seine politische Schlagseite kritisiert wurde, ist es nun zum Hassobjekt der Bolsonaro-Fans geworden.

Hoffnung für den Journalismus

In Zeiten schwerer Krisen und zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung scheinen einige Brasilianer*innen in den vergangenen Monaten jedoch neues Vertrauen in den Journalismus gewonnen zu haben. Verantwortlich dafür sind auch die Veröffentlichungen von „The Intercept Brasil". Das Online-Medium wurde 2014 von dem Journalisten und Pulitzer-Preisträger Glenn Greenwald gegründet.

Die Seite veröffentlichte im Juni Chatverläufe zwischen dem damaligen Richter und heutigen Justizminister Sérgio Moro und Staatsanwält*innen. Die Gespräche sollen beweisen, dass Moro Einfluss auf Ermittlungen genommen hat, um die Wahl der Arbeiterpartei PT zu verhindern und Ex-Präsident Lula hinter Gitter zu bringen. Das Material wurde „The Intercept Brasil" anonym zugespielt. Auch andere Medien griffen das Thema auf - darunter die erzkonservative Wochenzeitung „Veja", die Moro zuvor als eine Art gottgleiches Wesen dargestellt hatte.

Die Enthüllungen über den möglichen Komplott lösten ein politisches Erdbeben aus. Doch anstatt zurückzutreten, gingen Moro und Präsident Bolsonaro zum Gegenangriff über und attackierten Greenwald und die Journalist*innen von „The Intecept Brasil". So wollte es der Justizminister Moro kurz nach den Enthüllungen ermöglichen, Ausländer abzuschieben, gegen die lediglich ermittelt wird. Das Ziel dieser Aktion war klar: der in Rio de Janeiro lebende US-Journalist Greenwald.

Seit den Enthüllungen werden er und sein Mann David Miranda, Politiker der linken Partei PSOL, mit Morddrohungen und Fake News überschüttet. Auch die Bolsonaro-Familie beteiligt sich an der Hetze. Greenwald wurde zum Feindbild vieler Rechter. Trauriger Höhepunkt: Nach einem verbalen Schlagabtausch wurde der rechte Journalist Augusto Nunes während einer Live-Sendung handgreiflich. Auslöser der Debatte war die Forderung von Nunes, Greenwald und seinem Ehemann das Sorgerecht für seine zwei Kinder zu entziehen.

BREAKING NEWS: @theintercept journalist @ggreenwald was punched by VEJA columnist Augusto Nunes after calling him "coward". The scuffle happened during a program on radio station Jovem Pan #BrazilianReport #AugustoNunes #GlennGreenwald pic.twitter.com/0GI0nMUHbP

- The Brazilian Report (@BrazilianReport) November 7, 2019

Marcelo Träsel von der Journalisten-Vereinigung ABRAJI betrachtet solche Fälle mit großer Besorgnis. „Seit der Wahl von Bolsonaro müssen wir fast jeden Tag ein Solidaritätsschreiben mit einem Kollegen oder einer Kollegin auf unsere Homepage stellen." Bis jetzt sei der Journalismus ein Bollwerk gegen viele Ausfälle der ultrarechten Regierung gewesen. „Aber wir haben Angst vor dem, was kommt."

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