Eine kleine Küche mit rosa Wänden und rotem Boden. Auf dem Tisch liegt eine Wachstuchdecke mit goldenen Weihnachtssternen. Sie ist aus dem letzten Winter übrig geblieben, jenem Winter, in dem ein begann, die Welt zu erobern. Seine Ausbreitung hat Menschenleben gekostet und Existenzen. Die Frau, die vor der rosa Wand sitzt, erzählt von den Schulden, die sich seit Monaten bei ihr anhäufen. Aus Infektionsschutzgründen durfte sie lang nicht arbeiten. Die Küche liegt in einem Haus in der Herbertstraße. Die Frau verdient ihr Geld mit Sex.
Sonne fällt durch das kleine Fenster, die Strass-Steine auf dem Mundschutz der Frau glitzern. Noch heller leuchtet die Maske auf, die der hochgewachsene Mann ihr gegenüber trägt: Ein blütenweißes Modell, ohne Verzierungen, dafür TÜV-geprüft und labortauglich. Der Mann heißt Jonas Schmidt-Chanasit. Er ist 41 Jahre alt, arbeitet als Arzt und Virologe am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Er ist heute hier, weil er einen Ausweg aus dem Schlamassel finden soll. Gibt es ein Hygienekonzept, das Viren aus einem Bordell fernhält? Wo das Geschäftsmodell mit Abstandhalten nicht zu vereinbaren ist, weil es gerade um körperliche Nähe geht? Wo man, wenn alles gut läuft, schnell und heftig atmet, also ordentlich Aerosole verbreitet?
Wer den Virologen eine Weile beobachtet, kommt zu dem Schluss: Es gibt nicht einen Schmidt-Chanasit, es gibt zwei Schmidt-Chanasits. Auf den ersten Blick passen sie nicht gut zusammen. Der eine ist der aus den Schlagzeilen. Er hält nicht viel von Masken, nicht in Geschäften, nicht im Unterricht, und findet die beständig mahnende Stimme des SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach "hochgefährlich". Auf Twitter folgen diesem Schmidt-Chanasit viele, die die Pandemie für irgendetwas zwischen einem Missverständnis und einem üblen Trick halten.
Und dann ist da noch der andere, der Schmidt-Chanasit, der selbst bei kurzen Terminen eine virensicheren Filter vor seinem Mund trägt. Er ist abseits der öffentlichen Wahrnehmung gerade viel in Hamburg unterwegs. Auf dem Kiez, bei Theaterintendanten, bei Senatoren. Immer geht es um eine Frage: Wie kann man das Virus von den Menschen der Hansestadt fernhalten? Und oft kommen dabei ganz neue Ideen auf. Dieser Schmidt-Chanasit traut sich offenbar nicht nur in Interviews etwas. Er verbreitet Pioniergeist, leise und beständig führt er die Stadt in eine neue Richtung der Pandemiebekämpfung.
Die Herbertstraße darf seit dem 15. September wieder Kunden empfangen. Das Hygienekonzept, an dem er mitgearbeitet hat, sieht vor, dass beim Sex beide einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Zudem können sich die Frauen, sobald sie Symptome bemerken, im Virenlabor des Instituts testen lassen. Bei diesen Tests werden nicht, wie bisher üblich, mit einem Tupfer infizierte Zellen von der Rachenwand geangelt. Stattdessen legen sich die Frauen zwei Minuten lange eine Watterolle in ihre Backentasche - es ist wohl das allererste Mal, dass in Deutschland Corona-Tests auf Speichelbasis gemacht werden.
Das mal zu versuchen ist eigentlich überfällig. Eine selten ausgesprochene Wahrheit im bisher üblichen Testverfahren ist nämlich: Das Abstreichen nach "Goldstandard", ganz hinten ganz oben an der Rachenwand, überfordert viele Ärzte. Wer dabei zu forsch vorgeht, verdirbt den Test mit Blut. Wer zu zurückhaltend ist, findet vielleicht genau deswegen keine Viren. Eine Berechnung aus England mit fast 1.000 negativ getesteten Patienten, die noch einmal nachgetestet worden waren, kam darauf, dass ein Drittel der Virenträger falsch als virenfrei klassifiziert worden war.
Bei der Verwendung von Speichel fallen die Fehler der Rachenabstriche einfach weg. Was für andere Probleme er aber machen könnte, ist noch nicht klar. Niemand weiß zum Beispiel, was mit den Viren passiert, wenn man vor dem Test raucht oder Zähne putzt. Bisher gibt es erst einzelne Studien unter streng genormten Bedingungen, mit "Morgenspeichel", wie ihn auch die Frauen auf St. Pauli verwenden sollen. Dabei konnten zum Beispiel Infektionsmediziner in Japan mehr als 80 Prozent der Infizierten richtig zuordnen - deutlich mehr als mit einem durchschnittlich gut ausgeführten Rachenabstrich. (...)
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