In der Ostsee tummeln sich in Ufernähe Schweinswalmütter mit ihren Kindern. Aber geht es den Tieren gut? Geräusche scheinen ihnen stark zuzusetzen. Das hat schlimme Folgen für ihr enorm wichtiges Gehör.
Auf der Reling des schwimmenden Ferienhauses liegen Badeanzüge zum Trocknen, nach dem Frühstück soll es zum Strand gehen. Plötzlich macht es „Pfff!" unten im Wasser. Eine Schweinswalmutter mit ihrem Kälbchen ist neben der Reling aufgetaucht. Die beiden schwimmen vor der Terrasse, üben die runden Rücken beim Abtauchen und beäugen die Menschen. Es wird noch dauern, bis die Urlauber ihre Sachen packen.
Im „Ostseeresort Olpenitz" südlich von Kappeln reiht sich Wasserhaus an Wasserhaus. Dort tummeln sich in diesem Sommer die Miniwale. Wenn Schweinswale an die Oberfläche kommen, dann springen sie nicht, wie Delfine das tun. Sie mögen es unaufdringlicher: Ein eleganter Bogen, nur den Rücken an die Luft, für einen kurzen Atemzug. Mehr als die charakteristische dreieckige Flosse ist dabei meistens nicht zu sehen.
„Wir bekommen fast täglich Meldungen von dort", sagt Dagmar Struß, Leiterin der Landesstelle Schweinswalschutz beim Naturschutzbund Deutschland. „Immer Mutter mit Kalb. Noch kann ich nicht sagen, ob es dieselben Tiere sind." Im vergangenen Jahr kamen die Tiere sogar bis Oktober an die Küste. Auf den ersten Blick scheint es ihnen hier richtig gut zu gehen. „Die Populationsgröße hat sich in der Ostsee in den letzten zehn Jahren gut entwickelt", freut sich das Bundeslandwirtschaftsministerium, auch zuständig für Walschutz.
Wirklich? Das Monitoring ist kompliziert.Vor allem aus der Luft wird gezählt, an wenigen Flugtagen im Jahr, und nur Tiere, die an der Oberfläche schwimmen. Wie viele sich gleichzeitig unter Wasser aufhalten, muss abgeschätzt werden. Wenn nur wenige Schweinswale zu finden sind, wie es in den vergangenen Jahren auch der Fall war, heißt das nicht unbedingt, dass die Tiere wirklich verschwunden sind.
Ein beim Bundesamt für Naturschutz fürs Monitoring verantwortlicher Biologe nennt Zahlen. „2019 haben wir an die EU 1900 bis 5200 Wale gemeldet. Aber um das Jahr 2000 herum gab es laut einer Studie 11.000 bis 64.000 Tiere." Namentlich zitiert werden möchte er damit nicht - Naturschutzamt und Landwirtschaftsministerium sind schon lange in Konflikt.
In der Ostsee werden die empfindlichen Schweinswale aber nicht nur von Forschern und Touristen bestaunt. Sie leiden zunehmend unter Beeinträchtigungen, vor allem durch störende Geräusche. Lange dachte man, dass sie sich vor allem in dem engen westlichen Küstenbereich zwischen Deutschland und Dänemark aufhalten. Inzwischen ist eine zweite Population belegt, die sogenannte Zentralpopulation nördlich von Rügen.
Die Existenz wurde erst 2012 bewiesen, als Forscher aus Deutschland und Schweden Horchbojen zu Wasser ließen, die die Klicklaute der Wale aufzeichneten. Die östlichen Ostseeschweinswale sind eine genetisch getrennte Gruppe, halten sich offenbar von ihren westlichen Artgenossen fern, haben sogar eigene Verhaltensmuster. Zur Fortpflanzungszeit im Frühjahr treffen sie sich vor der schwedischen Insel Gotland.
Manche Forscher glauben, Schweinswale folgen großen Fischschwärmen, Heringen, Dorschen. Andere haben eine Vorliebe der Tiere für Muschelbänke beobachtet. Manchmal werden Hunderte daumengroße Fischchen von den Bänken im Magen eines einzigen Schweinswals gefunden. Die Tiere tauchen normalerweise mehrfach pro Minute auf. Wenn sie einmal tiefer tauchen müssen, können sie höchstens sechs Minuten unter Wasser bleiben.
Bei ihrem Leben dicht an der Wasseroberfläche sind sie ständig in Kontakt mit einem ziemlich penetranten Säugetier, dem Menschen. Wie sehr ihnen dessen akustische Hinterlassenschaften im Meer schaden, wurde bisher offenbar unterschätzt. Die Hinweise kommen vor allem vom Sektionstisch, der im Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung in Büsum steht. Dort untersucht die Tierärztin Ursula Siebert Schweinswale, die an deutschen Küsten angespült werden.
Sie ist besorgt. „Die toten Wale werden immer jünger", sagt sie. „Viele sind noch nicht einmal geschlechtsreif. Ich gehe inzwischen davon aus, dass viele Schweinswale in der Ostsee durch menschliche Aktivitäten gesundheitlich stark beeinträchtigt sind." Unter anderem dokumentierte sie Veränderungen an den Hörorganen.
Dort, wo sich viele Ostsee-Schweinswale aufhalten, an der Eckernförder Bucht und nördlich von Fehmarn, ist die See eng - und voll. Neben den Motorengeräuschen großer und kleiner Boote gibt es häufiger ohrenbetäubendes Rumpeln. Es stammt von den Rammanlagen, die Windräder in den Seeboden treiben, und von den Sprengungen alter Seeminen, die jetzt noch häufiger stattfinden als früher, für die Bauarbeiten. Als im vergangenen August 42 Minen im Fehmarnbelt gesprengt wurden, kamen danach 30 tote Wale mit eindeutigen Spuren der Explosion bei Siebert an.
Die Druckwelle sprengt die Knöchelchen im Mittelohr der Tiere. Wale orten ihre Beute durch ein Ultraschallradar. Im Unterkiefer haben sie einen mit Fett gefüllten Kanal, der die reflektierten Ultraschallwellen zurück zum Innenohr leitet. Nach so einem wuchtigen Einschlag sind diese Fettspeicher oft verformt.
Auch der sanftere, aber stetige Lärm von Motoren hat Folgen: Die Tiere verlieren mit der Zeit die Flimmerhärchen im Innenohr. Sie hören dann eingeschränkt. „Nur ist das für Wale so, als wären sie im menschlichen Sinne blind", meint Siebert. Hören ist ihr wichtigster Sinn.
Siebert hat den Verdacht, dass viele Schweinswale durch den Ostseelärm schwerhörig werden - und dass sie sich deswegen so häufig in den Stellnetzen der Fischer verheddern. Es ist eine der häufigsten Todesursachen bei den angespülten Walen, man erkennt das an tiefen, netzförmigen Hautrissen. Gerade hat Siebert für eine Studie den Hörapparat genau obduziert. Ihr Befund: Fast alle der 35 untersuchten Tiere konnten wohl kaum noch hören. Bei den meisten war das offenbar die Folge eines geschwächten Immunsystems, 23 hatten Parasiten im Ohr, 17 Bakterien.
Siebert fand auch Spuren von Lärm, bei jedem vierten Wal. Mal war das akustische Fett voller Blut, mal das Innenohr. Einer der Wale hatte offenbar eine Sprengung in seiner Nähe erst überlebt - Knochen und Knorpel im Ohr waren zerplatzt, das Gewebe hatte gerade begonnen zu heilen -, da überhörte er das Stellnetz in seinem Weg.
Schweinswale sind in der EU streng geschützt, die Länder haben sich verpflichtet, alles zu beschränken, was den Tieren schadet. In Schleswig-Holstein gibt es seit 2017 eine Einigung mit den Fischereiverbänden: Die Fischer dürfen wieder lange Netze ins Meer stellen, dafür befestigen sie daran Warnsender. Schwimmen die Tiere trotzdem hinein? „Ich habe den Eindruck: Ja", sagt Siebert.
Erste Daten sagen offenbar: Seitdem gibt es nicht weniger, es gibt sogar etwas mehr Strandleichen mit Netzmarken. Der Sender heißt PAL und ist eine Entwicklung des Kieler Meeresbiologen und Unternehmers Boris Culik. Zwar ließ er seine Erfindung vom Thünen-Institut testen, aber der Unterschied zwischen Netzen mit und ohne Warnton, den die Auftragsstudie damals feststellte, ist nicht signifikant.
Der Ton stammt aus einer Kommunikation zwischen Mutter und Kind, in Gefangenschaft lebend. Es könnte sein, dass erwachsene und frei lebende Tiere darauf anders reagieren, zum Beispiel mit Neugierde. „Um das auszuschließen, müsste man eine Beobachtungsstudie in freier Wildbahn machen", sagt Siebert. Bisher gab es dafür keine Geldgeber. Auch an den besenderten Netzen lässt sich derzeit nicht überprüfen, ob sie funktionieren. Es ist vereinbart, dass die Fischer beigefangene Wale abgeben, aber sie entsorgen sie offenbar lieber unauffällig. Immer noch landen viel mehr Strandfunde mit Netzmarken auf Sieberts Tisch.
Sanktionen gibt es bisher nicht. Die Ostsee ist zuerst ein Wirtschaftsraum. In Olpenitz wird das deutlich, wenn ohrenbetäubender Lärm ertönt. Ausgerechnet dort, wo gerade die Schweinswale samt Jungtieren schwimmen, starteten in diesem Jahr erstmals Superspeed-Boote für 350-PS-Trips übers Meer. Ebenso in Damp, in Kiel, in der Lübecker Bucht, überall dort, wo sich im Juli und August die Tiere aufhalten. Umweltschützerin Dagmar Struß ist entsetzt: „Für die Touristen ist das ein kurzer Spaß, aber für die Schweinswale tödlich", sagt sie.
Anfang Juli hat Struß das Umweltministerium informiert, bisher ohne Konsequenz. Auf Nachfrage der WELT AM SONNTAG teilte das Ministerium zwar mit, die Speedboot-Betreiber seien informiert worden, dass solche Fahrten „ohne Prüfung naturschutzrechtlich unzulässig" seien. Der Mann aber, der sich am Kundentelefon von RIB-Tours in Damp meldet, reagiert verwundert auf die Frage nach Fahrplanänderungen. „Natürlich fahren wir, so wie es da steht, zwei Mal die Woche. Wieso, was ist denn?"
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.