Will Philip S. einen Moment echten Glücks erleben, dann setzt er sich in seinen Rollstuhl. Kurvt durch die Schwabinger Straßen, während seine Beine bewegungslos und kalt unter ihm ruhen. Je länger S. draußen herumfährt, desto mehr gelingt es ihm, sie zu vergessen. Ihr betäubtes Schweigen - das ist es, was ihn glücklich macht.
Seit seiner Kindheit wünscht sich S. nichts sehnlicher als einen beinlosen Körper. Er weiß, wie seltsam das ist. Aber er kann nicht dagegen an.
S. ist ein analytischer Kopf, Ingenieur an einer großen Universität. Er hat Adressen von Operateuren recherchiert, die bereit wären, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er hat auch schon ein wenig Geld beiseitegelegt. Die Erfüllung seiner Träume wäre nur einen Langstreckenflug weit entfernt. Und doch hat er entschieden, dass die Beine bleiben. Vorerst.
Die Rückkehr vom kurzen Rollstuhl-Glück in die Realität ist jedes Mal bitter. „Ich klappe den Stuhl zusammen, trage ihn die Treppen hoch und frage mich, was ich jetzt wohl ohne Beine gemacht hätte. Sie kommen mir überflüssig vor und sind gleichzeitig doch so praktisch. Das macht alles nur noch schlimmer."
In unserem Geist muss eine Art Abbildung unseres Körpers existierenDer Drang zu einem Leben als Invalide, der S. und einige hundert deutsche Leidensgenossen umtreibt, stellt Mediziner vor ein Rätsel. „Sie können ihren Wunsch nicht recht begründen, er ist ihnen selbst auch unheimlich", sagt der Lübecker Psychiater Erich Kasten. Bei vielen ist das Bedürfnis so stark, dass sie sich die gehassten Gliedmaßen zertrümmern. Dann müssen die Ärzte amputieren.
Das Phänomen ist nicht neu und seit den Pioniertagen der Seelenkunde auch beschrieben: Ein englischer Edelmann hatte 1785 einen Chirurgen mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihm das Bein abzunehmen. Bis vor kurzem wurden solche Fälle in der Schublade sexueller Fehlprägungen abgelegt, als „Apotemnophilie", also Amputierliebe. Inzwischen greifen die meisten Forscher lieber zum Begriff der „Body Integrity Identity Disorder" (BIID). Als Erich Kasten vor zwei Jahren Interviews mit neun betroffenen Männern führte, war die Sehnsucht nach körperlicher Verstümmelung nur bei drei seiner Gesprächspartner erotisch getönt. Die anderen wollten einfach nur loswerden, was sie als überzählig empfanden. Und so steht etwas Grundlegenderes als Erklärung im Raum: In unserem Geist muss eine Art Abbildung unseres Körpers existieren. Und die kann ganz anders aussehen als der Körper, den wir tatsächlich haben.
Willkommene Sonderfälle der SelbstwahrnehmungS. kennt inzwischen die meisten Labore deutscher und schweizerischer Körperbild-Forscher aus eigener Anschauung. Probanden wie S. sind für die Wissenschaftler willkommene Sonderfälle der Selbstwahrnehmung, von denen sie sich Rückschlüsse darauf erhoffen, wie unser Gehirn normalerweise uns selbst in der Welt wahrnimmt.
Ein Blick in den Spiegel liefert noch längst nicht die ganze Wahrheit. Rückmeldungen gibt es auch auf anderen Wegen. Unser gesamter Muskelapparat wird durchzogen von einem Netz aus Positionsrezeptoren. Diese Signale zeichnen zusammen mit den Gleichgewichtsinformationen aus dem Innenohr die Bewegungen unseres Körpers nach. Doch das allein ergibt noch kein schlüssiges Bild: „Ohne eine Art Bibliothek im Gehirn, in der Daten über Größe, Form und Anordnung der einzelnen Körperteile zueinander hinterlegt sind, würden wir nicht viel anfangen können mit der Frage, ob sich unser Arm gerade über oder unter dem Kopf befindet", sagt Matthew Longo vom University College London.