Nike Heinen

Wissenschaftsjournalistin, Redakteurin, Berlin

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Die Schneemacher

Klebende Gele, Lampenöl, hitzefestes Salz: Wenn die Erfinder all das verwenden dürften, was sie wollten, könnte man heute schon bei jedem Wetter Schnee machen - und die Skisaison wäre nie zu Ende.

"Was für eine absurde Idee", werden sich die Mitarbeiter des Reichspatentamtes gedacht haben, als sie am 23. April 1927 Patentschrift Nummer 464521 entgegennahmen. ",Naturschnee-Ersatz' - als ob der Winter nicht schon lang genug wäre."

Eine "Gleitmasse" mit Eigenschaften "wie eine Federdecke" versprach der Erfinder auf zwei frakturbedruckten Seiten den Patentwächtern. Polierwachs, Salzkristalle und Seife solle man zu einer rutschigen Masse verkneten, Baumnadeln oder Wattefetzen mit der Masse tränken, um dann Skipisten im Sommer mit diesem "Kunstschnee" zu bestücken. "So entsteht (...) eine in sich zusammenhängende watteartige Schneedecke, deren Teile (...) sich auch bei stärkster Beanspruchung, z. B. bei Schwüngen, nicht verschieben", schrieb der namenlose Berliner Wintersportfreund.

Zwar fand seine gesalzte Seifenwatte nie den Weg auf eine reale Piste. Aber die Ansprüche an das erstmals "Kunstschnee" genannte Material - sein Fahrgefühl sollte an eine Federdecke, seine Stabilität an Beton erinnern - sind heute noch das hehre Ideal der Erfinder, die an einer geeigneten Gleitunterlage für Skifahrer tüfteln.

Bis heute haben sich im deutschen Patentverzeichnis 120 Erfindungen zum Thema Kunstschnee angesammelt, die meisten in den vergangenen zehn Jahren. Ideen für den Schnee von morgen sind keine Grenzen gesetzt: Mitarbeiter von BASF schlagen vor, Kühlfasern einzuarbeiten. Ein Erfinder aus Hindelang im Allgäu würde tauanfällige Abfahrten mit einem System aus Kühlmittelschläuchen durchziehen. Eine japanische Tüftlergruppe möchte eine beliebte Gelkomponente der Kosmetikindustrie - Polyacrylamid - umnutzen, um den Schnee auf Skipisten dem Können der Fahrer anzupassen: "Mit einem derartigen absorbierenden Granulat, das mit Schnee vermischt und dann eingefroren wird, können die Schneebedingungen von weich bis hart angepasst werden", schreiben die Autoren. "Mit diesem Verfahren lässt sich nicht nur neuer Schnee verbessern, sondern auch alter aufbereiten."

Der Markt für Kunstschnee ist groß und wird immer größer. Jede dritte Skipiste der Alpen ist zurzeit künstlich beschneit. Denn Schnee wird dort spürbar rarer, eine Folge der bereits eingesetzten globalen Erwärmung. Die Klimaexperten der OECD glauben, dass die Alpen besonders anfällig für den Klimawan-del sind. Im Jahr 2006 hatten sie dort die Schneesicherheit auf 666 Skipisten untersucht. Ausreichend Naturschnee an mehr als 100 Tagen im Jahr haben inzwischen nur noch 90 Prozent. Die Erwärmung um ein Grad, wie sie bis 2020 erwartet wird, würde die schneesicheren Hänge auf 500 verringern, bis 2050 könnten nur noch 200 davon übrig bleiben.

Weniger Pisten, weniger Skifahrer? Im Gegenteil. Die Alpen sind inzwischen fast flächendeckend mit neuen Superliften überzogen, die in wenigen Minuten Hunderte Wintersportler auf eine einzige Abfahrt spucken können. Entsprechend hochgefahren wurden die Bettenkapazitäten in den Wintersportdörfern - und die Liftfahrzeiten immer weiter ins Frühjahr gezogen, damit sich die Investition in neue Lifte rechnet. Ein Ende dieses Trends zur Massensportart ist nicht in Sicht.

"Ohne Kunstschnee könnte heute keine Piste mehr dieser Masse an Skifahrern und ihren neuen, aggressiveren Carving-Skiern mit messerscharfen Kanten standhalten", sagt der Kitzbüheler Schneetechnik-Experte Christian Steinbach, der sich im Auftrag der Fédération Internationale de Ski (FIS) bei den Weltcuprennen darum kümmert, den Schnee besonders stabil zu machen. Deshalb ist der technische Schnee, wie Fachleute Volksmunds "Kunstschnee" nennen, heute schon ziemlich widerstandsfähig und dabei so federweich, dass die meisten Fahrer ihn für echten Schnee halten. Der hat unter den Wintersportlern den Ruf, gutmütig und griffig zu sein, während Maschinenschnee als ein abweisender, harter Gegner verschrien ist. Beiden tut Fama Unrecht: "Es hängt vom Wetter ab und davon, wie fachkundig die Präparation ausgeführt wurde", sagt Hansueli Rhyner vom "WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF" in Davos. "Aber meistens ist technischer Schnee heute die griffigere Variante."

Das Schweizer Institut ist weltweit die einzige Forschungseinrichtung, die sich ausschließlich den weißen Flocken widmet. Rund 130 Mitarbeiter untersuchen, wie sie fallen, wie sie liegen und wann sie als Lawine zu Tal rasen. Rhyner leitet die Forschungsgruppe Industrieprojekte und Schneesport, sein Interesse gilt der Mikrostruktur von Schnee, unter anderem auch den Formen, die die Flocken unter Carving-Kanten annehmen.

Ob in den Wolken oder auf der Erde: Schnee entsteht immer dann, wenn Wassertröpfchen in kalter Luft auf Kristallisationskeime treffen. In den Wolken sind das in der Regel winzige organische Staubpartikel, aufgewirbelte Reste gewesenen Erdenlebens. In den Schneemaschinen wird ein Nebel aus Wassertröpfchen mit Eiskristallen beimpft. Solche Eiskeime entstehen, wenn aus einigen Düsen der Schneekanone das Wasser im Gemisch mit komprimierter Luft gepresst wird. Weil sich die Luft im Freien ausdehnt, kühlt sie ab und verwandelt die Wassertröpfchen in Eis. Sie fangen an zu gefrieren, wenn sie die Eiskeime berühren. Wolkenschnee ordnet sich zu kunstvollen sechsgliedrigen Sternformen. Kanonenschnee besteht aus unspektakulären Klumpen. "Die liegen kompakter als Naturschnee", sagt Schneeforscher Rhyner, "werden nicht so leicht von den Skikanten verschoben - und sind deswegen für einen Allround-Skifahrer griffiger zu fahren."

Sofern man Schnee getreu des natürlichen Vorbildes nur mit Wasser machen möchte, muss es, einfach gesagt, kalt und einigermaßen trocken sein. Zurzeit halten aber nur Deutschland, Österreich und Italien an diesem Reinheitsgebot fest. Im Rest der Welt verlassen sich die Pistenbetreiber, weil ja auch die Winter immer wärmer werden, immer häufiger auf chemische Zusätze. Dann schneien die Kanonen auch bei Lufttemperaturen um oder sogar über dem Gefrierpunkt. Mal werden besonders potente Kristallisationskeime eingesetzt, zum Beispiel Silicate.

Mal kommen Stoffe ins Schneiwasser, mit denen die relativ hohe Hürde, die Mutter Natur zwischen den flüssigen und den festen Aggregatzustand des Wassers gelegt hat, ein wenig zurechtgestutzt wird. So ein "Snow-Inducer" ist der Produkt-Neuling "Driftsnow", eine farblose Flüssigkeit, deren Geruch an den Giftschrank im Gartencenter erinnert. Die Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr: Der Wirkstoff ist ein Silikonharz, genauer ein modifiziertes Heptamethyltrisiloxan. Mit dieser Stoffklasse behandeln Landwirte ihre Felder, um den später eingesetzten Schädlingsgiften auf den wachsigen Pflanzenoberflächen besseren Halt zu geben.

Trisiloxane drängen sich zwischen andere Moleküle und unterbrechen deren Wechselwirkungen. So machen sie die Wachsschicht von Pflanzen durchlässig - und hebeln die Anziehungskräfte aus, die zwischen den polaren Wassermolekülen herrschen. Diese Anziehung verzögert normalerweise den Wechsel aus dem flüssigen Verband in eine feste Kristallstruktur. Mit Driftsnow gefriert Wasser leichter, im Mittel erhöht sich die Temperatur, bei der Schnee erzeugt werden kann, um ein Grad. Gleichzeitig entstehen kleinere, flachere Schneekeime, die schneller vollständig ausgefrieren. Das Fahrgefühl auf diesem Kunstschnee kommt dem Sehnsuchtsstoff der Wintersportgemeinde, dem echten Pulverschnee, sehr nahe. "Ihr Schnee wird fluffiger", wirbt der US-Konzern Aquatrols auf seiner Website für Driftsnow. "Sie reduzieren Ihre Energiekosten, erhöhen Ihre Schneemenge - und steigern den Profit Ihres Berges."

In den USA, in Kanada und in Südkorea wird der Stoff bereits regelmäßig verwendet. In der EU ist er auch zugelassen, aber bislang wurde von keinem Skiort öffentlich bekannt, dass man ihn einsetzt. Zumindest Familien, deren kleine Kinder gern mal ein Händchen voll Pistenschnee in den Mund stecken, würden das wohl auch nicht goutieren. Zwar zerfallen Siloxane in der Sonne in Kohlendioxid und ungiftiges Silikat. Aber das dauert seine Zeit, und der Stoff selbst ist nicht gerade zum Verzehr geeignet. "Wiederholte Einnahme des konzentrierten Produkts kann Leber, Schilddrüsen, Nieren, blutbildende Zellen oder die Fortpflanzungsorgane schädigen", warnt der Beipackzettel von Driftsnow.

Je mehr sich Skigebiete unter dem Druck des Klimawandels auf die technische Beschneiung verlassen müssen, desto drängender werden die Umweltfragen. Etliche Staaten verwenden in ihren Beschneiungsanlagen Oberflächenwasser aus Bergbächen oder sogar aus den Tälern, was jetzt schon organische Partikel mit Düngeeffekt und anorganischen Schmutz auf den Bergwiesen hinterlässt. Zwar schützt eine dichte Schneedecke die Wiesen auch vor den scharfen Skikanten. Aber die Pflanzen leiden mitunter beträchtlich unter der Beschneiung: Wenn ihre Blätter mit dem noch nicht auskristallisierten Wasser im frischen Kunstschnee in Kontakt kommen und weil sie die komprimierte Schneedecke bis weit ins Frühjahr hinein vom Sonnenlicht abschneidet. Wenn die Pflanzen auf den Pisten kümmern, geben sie dem Boden nicht mehr genug Halt. Erosion ist die Folge.

Einige der aktuellen Patente versuchen deswegen, die Schnee-Eigenschaften so zu modulieren, dass Skifahrer und Umwelt gleichermaßen profitieren. Ein besonders ausgeklügeltes Beispiel kommt aus dem Labor des Textilchemikers Gerhard Brink, Inhaber der Pasquart GmbH in Salzburg. Brink hat ein sogenanntes Schneegel erfunden, das Pasqualén. "Das ist ein Bindemittel für Kunstschnee", sagt er, "auf der Basis von Alkenylester." Diese - biologisch abbaubare und ungiftige - Stoffklasse ist zum Beispiel als Kaugummiharz oder als Weißleim im Einsatz und bildet hoch vernetzte Polymer-Moleküle. Normalerweise sind Alkenylester-Polymere relativ fest, wie die Haut auf einem offenen Eimer Farbe.

Brink fand heraus, dass eine gelartige Form entsteht, wenn man während der Polymerisation bestimmte Katalysatoren einsetzt. Die Alkenylester könne man einfach ins Schneiwasser mischen und die Polymerisation so takten, dass sie gleichzei- tig mit der Schneekornbildung stattfindet. "Erst durch den Kontakt mit Wasser bekommt das Polymer die gallertartige Struktur", erklärt Brink. "Weil es als Schneebestandteil so auch Schmelzwasser bindet, entsteht eine temperaturstabile Schneesorte, die mit der Zeit nicht aushärtet, sondern weich bleibt."

Bei bis zu zehn Grad Celsius soll der Pasqualén-Schnee stabil und griffig bleiben, die Pistenbetreiber könnten an Tauwettertagen ihre Beschneiungsanlagen laufen lassen. Vorteile propagiert Brink auch für die geschundene Bergumwelt: "Die Schneekanonen brauchen weniger Wasser. Und Gel, das sich während des Schmelzens zwischen den Bodenpartikeln absetzt, verhindert im Sommer die Erosion der Pistenhänge."

Jedenfalls an den Pisten, die einige Monate schneefrei bleiben dürfen. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass immer mehr Skigebiete die Schneedecke einzelner Abfahrten als besondere Attraktion das ganze Jahr über liegen lassen werden. Aus Israel kann man sich heute schon Sommerschnee-Anlagen für solche Projekte kommen lassen. Diese "Vakuumeismaschinen" sind eine Erfindung des Tel Aviver Entsalzungsanlagenbauers IDE Technologies. Das Prinzip ist ganz einfach: Wasser so kalt wie aus einem Schmelzbach wird in einen evakuierten Kompressorturm gesprüht, ein Teil des Wassers verdampft, während der andere Teil zu Schneematsch gefriert. Der wird in einem zweiten Turm zu festem Schnee heruntergekühlt. Ebenfalls unter Kühlung verwandelt sich auch der Wasserdampf in Schnee.

Mit den neuen Anlagen kann man nicht nur bei bis zu 35 Grad Celsius Schnee erzeugen - "Frühlingsschnee" heißt diese Schneequalität im Prospekt der Firma -, der Vakuumschnee hält wegen seiner kompakten Struktur auch diesen hohen Temperaturen stand. 2000 Kubikmeter Schnee kann eine einzige Vakuumeismaschine pro Tag erzeugen, aus nichts als Wasser und mit einem Energieverbrauch von sieben Kilowattstunden pro Kubikmeter. Das ist deutlich mehr Schnee - aber auch deutlich mehr Energie - als bei einer klassischen Propellerkanone: Die verbraucht bei minus drei Grad Celsius etwa drei Kilowattstunden pro Kubikmeter Schnee und schafft in 24 Stunden etwas mehr als 200 Kubikmeter.

Das Schweizerische Zermatt und das Tiroler Pitztal haben sich 2008 trotzdem die ersten Maschinen aus Israel bestellt, sie gingen jetzt mit der Saison 2009 in Betrieb: Diese Orte betreiben im Sommer ohnehin schon Gletscherskigebiete und können jetzt an deren Rand weitere befahrbare Flächen schaffen. Ihr Wasser bekommen die Eiskanonen dort aus einer ganz besonderen Quelle: aus dem Schmelzwasser der stetig kleiner werdenden Gletscher. "Zermatt und Pitztal sind nur der Anfang", sagt Moshe Tessel, Direktor für Schnee-Erzeugung bei IDE. "Wir sind überzeugt, dass andere Skigebiete nachziehen werden." Das israelische Schneewunder hat einen unschlagbaren Vorteil: Es ist sauber. Andere Ideen für Sommerschnee greifen dagegen tief in die chemische Trickkiste: So wie der Salzschnee "Hot Snow", den sich der österreichische Schneekanonen-Konstrukteur Gerald Reisenauer patentieren lassen will.

"Dieser Schnee ist grobkörnig", sagt er, "aber er gleitet wunderbar. Etwa wie Firn." Die eingesetzten Salze, über deren genaue Natur sich Reisenauer erst nach der Annahme seines Patents auslassen will, sind wiederverwendbar: "Bei über 30 Grad schmelzen die Schneekristalle, das Salz bleibt übrig und kann abgekehrt werden." Chinesische Wissenschaftler wiederum haben sich vorsorglich schon einmal die Rechte an einer Dauerschneesorte aus Paraffin und Talkum gesichert. Und ein Erfinder-Konsortium aus Mannheim und München sucht Abnehmer für eine Polyurethan-basierte Schneesorte, die keiner Kühlung mehr bedarf. All das auch für den Fall, dass der Winter in Zukunft nicht einmal mehr ein paar Grad unter Null zustande bringt.

"Wir brauchen keine Zusätze", sagt dagegen Schneeforscher Rhyner. Er sähe es gern, wenn sich die Pistenbetreiber bei der Wahl ihrer Abfahrten an die natürlichen Schneegrenzen halten würden. "In einer gewissen Höhe wird es immer Schnee geben. Und Eiskeime sind nach unserer Erfahrung einfach das Beste, um Schnee zu machen." Zusammen mit Fachkollegen der Fachhochschule Nordwestschweiz und einigen Partnern aus der Beschneiungsanlagen-Industrie hat er eine besonders energiearme Schneilanze entwickelt, die es ebenfalls mit nichts als Wasser in einem ganz neuen Temperaturbereich schneien lassen kann, an trockenen Tagen schon bei leichten Plusgraden. "Sie hat besonders feine Düsen, sodass besonders viele Eiskeime und besonders kleine Wassertröpfchen entstehen", sagt Rhyner. So ein feiner Schnee, gut gewalzt und dann unter die Ski genommen, lässt nach jedem Schwung eine glitzernde Wolke zur Seite stieben. Das fühlt sich ein bisschen anders an als eine Federdecke und erinnert nicht gerade an Beton. Aber es hätte wohl auch dem Kopf hinter Patent Nummer 464521 gefallen. ( Nike Heinen) /

Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 01/2010 von Technology Review entnommen. Der Artikel steht auch als kostenpflichtiges pdf im Artikel-Archiv zum Download bereit.

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