Ein prüfender Blick, zehn Meter unter Wasser - dann entfernt Sajan Pulinchery mit seinem Messer vorsichtig zwei Äste von einer jungen Steinkoralle, die auf einem großen Kunststofftisch wächst. Ein Tisch am Meeresgrund? Dazu später mehr. Zunächst stieben die blauen Riffbarsche auseinander und flüchten zwischen die übrigen Zweige der Koralle. Mit seiner Ernte und kräftigem Flossenschlag entfernt sich der Taucher, um am nahen Riff mit dem Messer zwei Löcher in eine versteinerte Hirnkoralle zu bohren. Behutsam steckt Pulinchery die gelben Zweige hinein - und sorgt mit seiner Nachzucht dafür, dass vor der Küste der Insel Havelock in der Andamanensee eine neue Korallenkolonie heranwächst.
„Es ist wie Gärtnern, nur unter Wasser", sagt der drahtige 43-Jährige, der eine Tauchschule und eine Öko-Ferienanlage betreibt, aber eben auch zum Erhalt eines der wichtigsten maritimen Lebensräume beiträgt. Als er 19 war, fiel ihm ein Buch über das indische Territorium der Andamanen in die Hände. Es faszinierte ihn so sehr, dass er sein Informatikstudium in der indischen IT-Metropole Bengaluru aufgab, seine Sachen packte und das Bett für fünf Jahre gegen eine Hängematte am Strand seiner Trauminseln tauschte. Mitte der 1990er-Jahre war Pulinchery einer der ersten Touristen, die überhaupt auf die Andamanen reisten.
Das grüne Inselreich, zu dem auch die südlicher gelegenen Nikobaren gehören, liegt im Indischen Ozean zwischen Thailand und Indien. Dessen Regierung verwaltete das Gebiet lange nachlässig, was sich für die Natur als Segen erwies: Die Korallenriffe blieben weitgehend intakt. Deshalb nahm Mission Blue, eine Nichtregierungsorganisation aus Kalifornien, die Andamanen in die Liste ihrer maritimen „Hope Spots" auf: „Orte der Hoffnung" mit artenreicher Unterwasserwelt, die für gesunde Weltmeere unentbehrlich und deshalb schützenswert sind. In den unzähligen Riffen der Andamanen leben Fische, Korallen und Weichtiere, deren Larven und Eier sich als Teil des Planktons mit der Strömung über große Entfernungen verteilen und so die Biodiversität der Ozeane bewahren. Allein vier Schildkrötenarten nisten an den Stränden der Inseln. Und auch das seltene Dugong, die Gabelschwanzseekuh, findet hier Rückzugsräume.
Doch dieses Paradies ist bedroht. Wie fast alle Riffe weltweit leiden die Korallenbänke der Andamanen unter der Erwärmung der Meere; die hohen Wassertemperaturen lassen sie ausbleichen und absterben. Der Tsunami von 2004 richtete auch unter Wasser große Schäden an, und ein unkontrolliert wachsender Tourismus würde weitere Gefahren mit sich bringen: „Manche Tauchschulen, die nur auf schnelles Geld aus sind, lassen ihre Kunden bei Tauchgängen die Korallen anfassen oder sogar darauf stehen", sagt Pulinchery. „Das zerstört diese empfindlichen Lebewesen." Nicht zuletzt deshalb hat die indische Regierung zahlreiche der rund 570 Inseln der Andamanen und Nikobaren unter strengen Schutz gestellt. Lediglich 38 sind überhaupt bewohnt, etwa zwei Dutzend dürfen derzeit von Touristen betreten werden - die ausgedehnten Dschungelgebiete sogar nur mit Sondererlaubnis. Schon jetzt kommen jedes Jahr rund 400 000 Urlauber, das entspricht ungefähr der Zahl der Einwohner des Archipels. Dass sie nur zwei Flugstunden von Chennai entfernt sind, macht die Andamanen zu einem erschwinglichen und leicht erreichbaren Ziel für Hochzeitsreisen oder den Familienurlaub am Strand. Weil staatliche Naturschutzprogramme aber nicht ausreichen, um Riffe, Küsten und Wälder angesichts steigender Besucherzahlen nachhaltig zu bewahren, engagieren sich immer mehr Idealisten in Eigeninitiativen. Menschen wie Sajan Pulinchery.
Neptuns Neffe: Tauchlehrer und Korallenretter Sajan Pulinchery
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Garima Poonia organisiert Müllsammlungen am Strand
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Irgendwann fiel ihm auf, dass die Korallen in dem Riff, das direkt vor seiner Tauchschule liegt, abzusterben begannen. Er lernte das Züchten mit Korallentischen, auf denen seine jungen Schützlinge sechs Monate heranwachsen, ehe er sie verpflanzt. „Wenn wir in Ufernähe schöne Korallen haben, muss man die Taucher nicht mit dem Boot hinausfahren", sagt er. Das schone die Umwelt. Dennoch hält der Öko-Pionier einen geregelten Tourismus für sinnvoll: „Wer hier einen Schnuppertauchkurs belegt und diese herrliche Unterwasserwelt erlebt, der versteht, warum die Riffe so dringend geschützt werden müssen."
Sorgen bereitet ihm hingegen der Müll, der zunehmend das Meer verschmutzt. Außer in Port Blair existiert auf den Inseln keine Müllabfuhr. Garima Poonia kam vor zwei Jahren als Touristin auf die Insel Neil, erkannte das Problem - und blieb, um zu helfen. Die quirlige 26-jährige Nordinderin mit Pferdeschwanz und Hornbrille wollte nicht nur am Strand liegen, sondern auch etwas tun. „Als ich das viele Picknickgeschirr und die Plastikflaschen am Strand sah und all die Müllsäcke in den Hotels, wusste ich, dass etwas passieren muss", erzählt sie. Sie hatte in ihrer Heimat bereits an Müllsammelprojekten mitgewirkt und will nun Touristen und Einheimische dafür sensibilisieren. Bislang verbrannten die Menschen ihre Abfälle einfach auf ihren Grundstücken. Poonia klapperte die Dörfer ab, sprach immer wieder mit den Besitzern der Gästehäuser und der großen Hotels: Sie sollen die Abfälle trennen und eine Gebühr für die Abholung zahlen. „Von 16 großen Hotels wollte nur eins nicht mitmachen - keine schlechte Quote", freut sich Poonia.
Urlauber rüttelt die Umweltschützerin mit Plakaten auf und mit regelmäßigen Sammelaktionen an Stränden. An diesem Morgen zieht ihre Gruppe Freiwilliger mit Plastiksäcken, Handschuhen und Müllpickern durch den Tropenwald zu einem kleinen Strand. In den Wipfeln der Bäume kreischen Vögel mit roten Hauben und gegabelten Schwänzen, die nur auf den Inseln heimisch sind. Nach einer dreiviertel Stunde ist das Ziel erreicht: eine menschenleere Bucht mit feinem weißem Sand, gesäumt von Felsen, die das Meer über die Jahrhunderte glatt geschliffen hat. Menschen finden nur selten hierher. Die Brandung indes hat unzählige Plastikflaschen, Bojen, Schuhe und Reste von Fischernetzen angespült. Als die Gruppe den Rückweg antritt, hat sie ein Dutzend Säcke gefüllt. Poonia verstaut sie im Unterholz, damit die Flut sie nicht mit sich reißt. Ein Boot wird sie tags darauf zum Hafen bringen. Von dort aus hat Poonia einen Transport in die etwa zweieinhalb Stunden entfernte Hauptstadt organisiert. Ein lokaler Recyclinghändler hat sich bereit erklärt, die Sammlung aufs Festland zu schicken und dort zu verwerten. „Das ist erst mal ein Test", sagt Poonia, „der Transport mit Schiffen ist sehr teuer und kompliziert." Die isolierte Lage hat die Inseln lange abgeschottet - jetzt erweist sie sich als Herausforderung.
Auch John Aung Thong hat bereits Abfallsammlungen in seinem Dorf organisiert. Der nachdenkliche Mittvierziger mit akkurat gescheiteltem, grau durchzogenem Haar lebt auf Mittel-Andaman, einer der größten, aber dennoch am schwersten zu erreichenden Inseln. Die etwa zehnstündige Fahrt im organisierten Konvoi führt von Port Blair durch das Reservat der Jarawa, einem der Urvölker der Andamanen, das nur zaghaft Kontakt mit der Außenwelt sucht. Die Regierung hat ihr von dichtem Dschungel bewachsenes Gebiet unter strengen Schutz gestellt. Nur die Konvois dürfen dreimal am Tag passieren.
Saw John, Herr John, wie ihn hier alle respektvoll nennen, gehört selbst zu einer indigenen Gruppe, den Karen. Während der Kolonialzeit holten die Briten sie aus Myanmar als Holzarbeiter auf die Andamanen. Dort erwarben sich die Karen schnell einen Ruf als begnadete Bootsbauer. Ihre seetauglichen Kanus schnitzten sie aus den Stämmen des Andaman-Redwood, eines bis zu 40 Meter hohen Mahagonibaums. Seit er unter Naturschutz steht, ist diese Tradition jedoch abgerissen, und ebenso das Tauchen nach Muscheln und Seegurken, die früher als Heilmittel nach China und Südostasien verkauft wurden. Auch durften die Karen plötzlich keine Vögel und Echsen mehr jagen, Früchte und Medizinkräuter im Dschungel sammeln und für ihre Häuser und Zäune Holz, Bambus und Palmblätter schlagen. Taten sie es doch, galten sie als Wilderer und illegale Holzfäller.
Schützt Natur und Kultur: John Aung Thong
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Saw John hätte sich darüber nicht viele Gedanken gemacht, wenn er nicht vor 25 Jahren im gerade gegründeten biologischen Forschungszentrum ANET nahe Port Blair als Hausmeister angefangen und sich bald zum Forschungsassistenten hochgearbeitet hätte. „Erst durch meinen Job habe ich ein Bewusstsein für den Umweltschutz entwickelt", sagt er. Vor zwei Jahren kehrte er zurück in sein Dorf, um den Bewohnern zu helfen, die in Armut lebten oder weggingen, um in den Tauchschulen zu arbeiten. „Auf diese Weise geht unser kulturelles Erbe allmählich verloren", sagt Saw John. Mit Unterstützung seines Arbeitgebers ANET gründete er ein Projekt zur Aufzucht traditionell genutzter Pflanzen wie Bambus. „Die Karen erhalten sie kostenlos, um sie in ihren Gärten anzubauen und später als Holz zu nutzen, statt sie aus dem Wald zu holen", erklärt Saw John. Auch Medizinpflanzen wie den Zitronenstrauch verteilt er unentgeltlich. „Nur wenige wissen noch, wie man diese Heilmittel verwendet", sagt er. „Die Blätter dieser Zitrone etwa kann man roh essen, sie lindern Magenbeschwerden." Saw Johns Vater war einer der letzten traditionellen Heiler der Karen - nun hält sein Sohn dieses Wissen lebendig. Und trägt damit nicht nur dazu bei, Traditionen fortzuführen, sondern auch natürliche Ressourcen zu bewahren.