TEXT NICOLE GRAAF FOTOS FLORIAN LANG
Ein Schneider in Neu-Delhi kümmert sich, unterstützt von der Lufthansa help alliance, um Kinder aus armen Familien - zum Project Sunshine gehört auch eine Fußballmannschaft, in der vor allem Teamwork zählt.
Ein kurzer Pfiff des Trainers - dann spurten Anuradha und Gudiya los, als hinge ihr Leben davon ab. 20 Meter bis zu den blauen Hütchen, einmal drum herum, im Rückwärtsgang zurück zum Start, abklatschen, Luft holen. Während die nächsten beiden Kinder lossprinten, warten die anderen ungeduldig in der Schlange. Jeder will der Nächste, will der Schnellste sein.
Wir sind im Sportkomplex Saket, im Herzen von Indiens Hauptstadt Neu-Delhi. Über die weitläufige Anlage verteilen sich Tennisplätze und Basketballcourts, dazu kommen ein Kricketfeld, ein Reitplatz und ein Fitnessstudio. Die Nachbarschaft besteht aus akkurat gestutzten Büschen, schicken Apartments und teuren Privatschulen. Hier liegt auch der Trainingsplatz eines Fußballteams, das nicht recht in diese Gegend passen will. Denn Gudiya, Anuradha, Akash, Vijay, Kundan, Keshav, Rithik und Amit, die hier fröhlich mit ihrem FC Sunshine kicken, kommen aus einer Gegend, wo das Leben ungleich schwieriger ist, aus dem Sunshine-Kinderhort im nahen Problemviertel Said-ul-Ajaib.
Angefangen hat alles vor 18 Jahren, erzählt Kuku Arora, Schneider, Modedesigner und Gründer des Project Sunshine, zu dem die Fußballmannschaft gehört. Damals habe ein kleines Mädchen mit nur einer Hand vor seinem Laden gesessen, die Passanten am Ärmel gezupft und gebettelt. Nach ein paar Tagen konnte Arora, selbst Vater, das nicht mehr mitansehen: Er machte die Eltern ausfindig und überzeugte sie, dass er sich künftig um die Zweijährige kümmern würde - und um ihren Bruder, der auf der Straße Gemüse verkaufte. Nach und nach kamen weitere Kinder in seinen Hort - so viele, dass 2002 offiziell das Project Sunshine begründet wurde. Der Name passt gut zu Arora. Er hat ein stetes optimistisches Funkeln in den Augen, das zum Strahlen wird, sobald er von seinen Schützlingen umgeben ist. Heute kümmert er sich mit seiner Frau Priti um fast 270 Kinder aus dem Viertel, unterstützt von Paten und Spendern aus aller Welt. Arora lächelt fast entschuldigend: „Wie hätte ich das eine Kind aufnehmen können und das andere nicht?"
Das Leben im Viertel Said-ul-Ajaib ist hart. Verwinkelte Gassen, die Familien leben zusammengedrängt in winzigen Zimmern, in die kaum mehr passt als ein Bett, ein Schrank und ein kleiner Gaskocher. In den engen Häusern müssen sich oft bis zu acht Familien eine Etage teilen, mit einem Waschraum und einer Toilette. „Wassermangel ist unser größtes Problem", sagt Vijay, 14, mit ernstem Blick. Vor dem Wohnraum seiner Familie stapeln sich Kanister. Damit das Wasser für alle im Haus reicht, dürfen sie sich nur an bestimmten Tagen ihre Ration aus dem riesigen Tank auf dem Dach zapfen. „Die Leute streiten sich oft deswegen", sagt Vijay. Überhaupt gibt es viel Ärger, Unrecht und Leid. Der Großteil der Menschen hier hat keine Arbeit, die Armut treibt viele in den Alkoholmissbrauch, häusliche Gewalt ist keine Seltenheit. Und während sich jene Eltern, die Jobs haben, den ganzen Tag lang als Rikschafahrer, Haushaltshilfen oder Laufburschen abrackern, um das Geld für die nächste Mahlzeit oder Miete zusammenzukriegen, ist der Nachwuchs oft auf sich selbst gestellt - ein guter Nährboden für Kinderarbeit und Straßenbanden.
Kuku Arora will das ändern und hat deswegen eine Abmachung mit den Eltern getroffen: „Sie schicken ihre Kinder nicht zur Arbeit oder zum Betteln, sondern erst zur Schule und danach zu uns. Im Gegenzug müssen sie keine einzige Rupie bezahlen." Arora kümmert sich selbst um die Finanzierung. Er persönlich meldet seine Schützlinge in der Schule an, besorgt ihnen die Uniformen, dazu Hefte und Stifte, wenn nötig sogar Brillen. Nachmittags können die Kinder im Nebenraum seines Ateliers in Ruhe ihre Hausaufgaben machen, danach Tanzstunden, Computerkurse oder den Nachhilfeunterricht besuchen. Trinkwasser, Arztbesuche, eine frische Dusche oder ein warmes Abendessen - den Kindern soll es an nichts fehlen, sagt Kuku Arora. Erst zum Schlafen gehen sie wieder nach Hause.
Zu Beginn hat der 46-Jährige all das allein gestemmt, Freunde und Kunden spendeten Geld oder brachten Bücher und Kleidung vorbei. Immer wieder drohte das Hilfsprojekt ihm und seiner Frau über den Kopf zu wachsen. Vor rund zehn Jahren waren ihre finanziellen Möglichkeiten erschöpft. Als dann noch die Miete schlagartig um 200 Prozent erhöht wurde, weil das Viertel dank einer neuen Metrostation in der Nähe als attraktiver galt, stand das Project Sunshine vor dem Ende. Doch just zu dieser Zeit lernten sie Julia Hillebrecht kennen, damals Flugbegleiterin der Lufthansa. 2009 organisierte Hillebrecht einen ersten Zuschuss der help alliance und hilft seitdem dabei, Patenschaften zu arrangieren. „Ohne ihre Unterstützung hätten wir nicht weitermachen können", sagt Arora.
Das Fußballspielen hat den Kindern viel Selbstbewusstsein gegeben
Dieses Engagement erst hat den FC Sunshine möglich gemacht. Mit den Spenden kaufte Arora Trikots, Stollenschuhe, Schienbeinschoner und ordentliche Lederbälle. Die Eltern hätten das nie leisten können. Für die neuen Stutzen, umgerechnet jeweils zwei Euro teuer, die Gudiya vor dem Training ausgepackt und angezogen hat, müssten ihre Eltern viele Portionen frittierter Kichererbsenbällchen verkaufen. Und die Mitgliedschaft im Sportkomplex von Saket ist mit umgerechnet 30 Euro so teuer wie eine halbe Monatsmiete. Dass Sport in Neu-Delhi nicht mehr nur ein Privileg der Reichen ist, dafür haben Kuku Arora und seine Unterstützer gesorgt.
Viermal in der Woche findet nun Training statt. Man sieht schnell: Wenn es um Fußball geht, gibt es für die Kinder kein Halten mehr. Bereits auf dem Weg zum Training kicken sie sich die Bälle lässig zu, lupfen sie über Bordsteinkanten, umspielen gekonnt Tuk-Tuks und Essensstände. Fragt man sie nach ihrem Lieblingsverein, rufen sie unisono: „FC Barcelona!" Auf dem Rasen spielt die Herkunft keine Rolle mehr, hier zählen Einsatzwille und Zusammenhalt. Diese Erfahrungen prägen die Kinder über die Spielzeit hinaus. „Ich will hart arbeiten, damit es meiner Familie einmal besser geht", sagt Vijay, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt und später - wenn schon nicht Profifußballer - vielleicht Schriftsteller werden will. Anuradha träumt von einer Karriere als Pilotin. Und weil beim FC Sunshine niemand zurückgelassen wird, schreibt das Mädchen, ganz Sportskameradin, vor dem Training noch schnell die Mathe- Hausaufgaben für ihre Freundin Pooja mit, die heute ihre Verwandtschaft auf dem Land besucht.
„Das Fußballspielen hat den Kindern viel Selbstbewusstsein gegeben", sagt Kuku Arora. Er ist stolz, sein Projekt zeigt Wirkung: Roshni, das kleine Mädchen mit nur einer Hand, arbeitet heute als Lehrerin im Hort. Ihr Bruder Salim studiert und hat nebenbei eine Ausbildung als Yogalehrer absolviert. Trotzdem kommt er noch fast täglich vorbei, hilft bei der Buchhaltung und begleitet die Jüngeren zum Sportplatz. Die beiden erfüllen Aroras Herzenswunsch: „Sobald sie auf eigenen Füßen stehen, sollen sie sich jeweils um zwei weitere Kinder kümmern." So wie er damals.
Dann endlich geht es los. Der Trainer ruft zum Spiel gegen die Kids aus der Mittelschicht. Anpfiff, gleich hat Vijay den Ball am Fuß. Er dribbelt im Zickzack an zwei Gegnern vorbei, wirft einen schnellen Blick auf den Keeper, zielt auf die rechte Ecke, zieht ab, unhaltbar, Tor! Wenig später grätscht Anuradha einen großen Jungen ab, der mit dem Ball auf das Tor des FC Sunshine zurennt, und kann so einen Pass verhindern. Voller Einsatz, jeder für jeden. Beim Abpfiff steht es unentschieden, doch das Ergebnis ist zweitrangig. Kuku Arora strahlt: „Die Kinder werden hier zu einem Team." Das wird ihnen helfen, im Fußball wie im Leben.
Bälle, Schuhe, Trikots und Mitgliedschaft im Sportclub wären ohne Spenden und Patenschaften nicht möglich
Hilfe für Kinder
Die help alliance ist die Hilfsorganisation der Lufthansa und ihrer Mitarbeiter. Sie ist die zentrale Säule des gesellschaftlichen Engagements des Konzerns. 1999 von 13 Lufthansa Mitarbeitern gegründet, bündelt die gemeinnützige BmbH derzeit rund 30 Projekte weltweit unter ihrem Dach, die vor allem jungen Menschen eine Ausbildung und die Chance auf ein besseres Leben verschaffen sollen. Jeder Cent, den Fluggäste spenden, fließt direkt in diese Projekte.