Unter einem Dach aus roten Regenschirmen ruft der Kellner: „Hau ab!" Das Restaurant ist gerade der angesagteste Ort in Belgrads Innenstadt. Also für die, die es sich leisten können, dort zu essen. Und da gehört der junge Araber eben nicht dazu, dem die harschen Worte des Kellners gelten. Mit seiner Bitte um ein paar Münzen stört er das abendliche Idyll.
Für einen Augenblick sieht es so aus, als habe der junge Mann verloren. Doch verdrängen lässt er sich genauso wenig wie die anderen Flüchtlinge, die derzeit zu Hunderten in Belgrad hausen. Vor dem Busbahnhof, da liegt der Afghanen-Park, der früher, als dort noch Prostituierte auf Kunden warteten, Pussy-Park hieß.
Aber jetzt sind hier keine Prostituierten mehr, sondern Flüchtlinge, die in Gruppen herumsitzen. Tagsüber schauen die Belgrader, die im Park ihre Mittagspause machen, neugierig zu ihnen herüber. Anders als der Kellner aus dem Szenelokal haben viele Serben mit den Flüchtlingen kein Problem. Sie erinnern sich noch gut an die Jugoslawienkriege in den 90er-Jahren, daran, was es heißt, auf der Flucht zu sein.
Jeden Tag beginnt hier im Afghanen-Park „the Game"Die meisten Flüchtlinge wollen auch gar nicht bleiben. Mindestens 1000 Menschen kommen jeden Monat hierher. Serbien, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und der Monatslohn im Schnitt bei 400 Euro liegt, ist nur ein Zwischenstopp, sie wollen weiter nach Belgien, Schweden, Deutschland. Wenn schon Europa, dann die EU.
Die meisten Flüchtlinge im Park sind Afghanen. Einigen klebt noch das Gras am Rücken, vom Schlafen im Park. Sie tragen Wanderschuhe. Sie werden Spieler genannt: Jeden Tag beginnt hier im Afghanen-Park „the Game". Es geht ihnen nicht um Geld, es geht um ihr Leben. Ihr Endgegner: die Europäische Grenzpolizei.
Gerüchte über Häuser, die Flüchtlinge in Deutschland bekämenEiner von ihnen ist ein hagerer, großer Mann, der sagt, er stamme aus Pakistan, in Belgrad sei er seit letzter Nacht. Aber er will weiter nach Deutschland. Er greift seinen blauen Schlafsack und läuft voraus, zur „deutschen UN", wie er sagt, damit meint er das Büro von Irena Vari, eine junge Frau, 24 Jahre alt, lange blonde Haare, freundlich, aber auch streng. Sie arbeitet für die serbische Hilfsorganisation Info Park.
An der Eingangstür kleben Plakate der deutschen Regierung: „Rumours about Germany", steht darauf. Sollen das jetzt Informationen zur wahren Lage sein oder geht es darum, Flüchtlinge abzuschrecken?
„Hier wird so viel Quatsch erzählt, da sind ein paar Informationen echt nötig", sagt Irena Vari. Mal erzählten sich die Flüchtlinge, man müsse sich im Zug nach Wien bei den Grenzkontrollen nur schlafend stellen - ein internationales Gesetz verbiete den Grenzpolizisten, schlafende Fahrgäste aufzuwecken; mal gehe es um Häuser, die Flüchtlinge in Deutschland bekämen. Gestreut würden die Gerüchte von Schmugglern, deren Geschäft die Flüchtlinge sind, die sich auf den Weg machen - egal, ob sie es über die Grenze schaffen oder zurückgeschickt werden.
Man versteckt sich in leeren Gastanks auf der Ladefläche eines Lkws oder klemmt sich unter ZügeFür 500 bis 1000 Euro wird man zur Grenze gebracht, sagt Irena Vari. Dort geben die Schmuggler den Flüchtlingen GPS-Daten für den Fußweg nach Kroatien oder Ungarn. Nach Ungarn geht es auch legal, dafür müssen sich Flüchtlinge auf der sogenannten Ungarn-Liste eintragen. Früher waren es mal hundert Flüchtlinge pro Tag, die rüber durften, jetzt sind es vielleicht noch zwei - ein Hohn angesichts der wilden Camps in Grenznähe und der Tausenden Wartenden in ganz Serbien.
Wer bis zu 5000 Euro hinlegen kann, erzählt Irena Vari, bekommt einen gefälschten Pass und muss sich nicht bei Nacht an den Grenzpatrouillen vorbeischleichen. Oder man besticht ungarische Grenzbeamte. Oder man versteckt sich in Kühlschränken und leeren Gastanks auf der Ladefläche eines Lkws oder klemmt sich unter Züge - wobei ab und zu jemand stirbt.
Das alles nehmen Menschen auf sich, um in Ländern wie Deutschland einen Asylantrag zu stellen, was ihr Recht ist. Viel ist nach drei Jahren Flüchtlingskrise von diesem Recht nicht übriggeblieben in der EU.
Viele Flüchtlinge versuchen es zehn, zwanzig Mal, bis sie es schaffen„Wer von den Grenzpolizisten erwischt wird, bekommt Schläge", sagt Irena Vari. „Die fixieren sie am Boden und machen Selfies mit ihnen, es ist menschenverachtend." Viele kämen mit Wunden übersät von der Grenze nach Belgrad zurück, ein Junge zuletzt mit gebrochenem Arm. Handys werden abgenommen, Geld, manchmal sogar die Kleidung. Dann laufen die Menschen barfuß nach Belgrad zurück. „Pushbacks" nennt man das.
Wie oft gibt es diese Pushbacks? „Jeden Tag", sagt Irena Vari. Sie sind eigentlich illegal, weil Flüchtlinge zumindest um Schutz bitten dürften, doch längst sind sie gängige Praxis und in zahlreichen Berichten dokumentiert, sogar von der Europäischen Menschenrechtsagentur, einer Institution der EU.
Viele Flüchtlinge versuchen es zehn, zwanzig Mal, bis sie es schaffen, zuletzt ging es am einfachsten über die Grenze nach Bosnien und von dort weiter in die EU. Aber auch, wer ins kroatische Zagreb gelangt, kann dort aufgegriffen werden und wird nach Serbien zurückgebracht, obwohl er längst auf kroatischem Boden war, was ein noch viel krasserer Verstoß gegen europäisches und internationales Recht ist. Und auch das ist belegt, von mehreren kroatischen Menschenrechtsorganisationen.
„Das ist vorauseilender Gehorsam", sagt Irena Vari. Kroatien sei ja bereits EU-Mitglied und wolle gegenüber der Kommission beweisen, dass es seine Grenzen schützen kann. Die Mittel scheinen dabei egal zu sein.
Wer auf Hilfe angewiesen ist, muss sie erkaufen - zur Not mit SexDie Verlierer des Grenzspiels und die Neuankömmlinge in Serbien sind die eine Zielgruppe von Irena Varis „Info Park" in Belgrad. Sie versorgt hier Wunden, stillt Hunger, führt Gespräche. Wer irgendwann aufgibt, bleibt in Serbien. Das ist die zweite Zielgruppe des Info Park, wo die Gestrandeten Sprachkurse besuchen, gemeinsam Cricket spielen gehen oder einfach vor Youtube-Videos rumhängen.
Sonntag ist Workshop-Tag für die Jungen, die unbegleitet, ohne Familien kamen. Heute geht es um Hygiene. Irena reibt sich Glitzer auf ihre Hände, gibt den Afghanen die Hand, der Glitzer verteilt sich. Dann waschen sich alle die Hände. Wer hat noch Glitzer zwischen den Fingern? Noch mal waschen, mindestens 30 Sekunden, mit Seife.
Auch ein stiller Zwölfjähriger macht mit, er ist das erste Mal dabei. Er sieht aus wie ein Kind und wirkt gleichzeitig sehr erwachsen, wie er da zwischen den anderen Jugendlichen sitzt, dunkelrote Chucks, Armeehose, die Beine übereinander geschlagen. Sein Name ist Reyhan.
Irina Vari weiß nicht, was er auf der Flucht erlebt hat. Aber es ist kein Geheimnis, dass insbesondere junge Afghanen häufig Opfer von Missbrauch werden. Wer auf Hilfe angewiesen ist, muss sie erkaufen. Zur Not mit Sex. Immer wieder starrt Reyhan ins Nichts, dann klopft er plötzlich laut mit der Faust auf den Tisch, ist wieder da, grinst die anderen Jungen an, spielt mit dem Katzenbaby, das zwei Afghanen am Vortag gefunden haben.
„Ich will doch irgendwann mal studieren, richtig arbeiten, heiraten"Eine halbe Stunde spricht Irena mit den Jungen über Sauberkeit, dann ist die Aufmerksamkeit aufgebraucht. Auf ihren Handys drehen sie die Musik auf, arabischer HipHop, ein persisches Liebeslied, ein paar fangen an zu tanzen, die anderen zeigen sich gegenseitig Bilder auf Instagram oder spielen mit dem Katzenbaby. Zwei Jungen schlürfen Nudeln aus einer Fünf-Minuten-Terrine. Reyhan sitzt stumm daneben.
Irena Vari wirft einem Jungen, der Mustafa heißt, einen Ball zu. Er ist 18 Jahre alt und hat Afghanistan verlassen, da war er gerade mal 14. „Das Leben dort war scheiße. Wenn ich mal eine geraucht habe, hat mein Vater mich geschlagen. Und wegen meiner langen Haare habe ich ständig Probleme bekommen." Also zog er los, mit ein paar anderen Jugendlichen.
Drei Jahre habe er in der Türkei gearbeitet, erzählt er, Schuhe hergestellt, Kleidung, was eben gerade ging, um Geld zu verdienen, nebenbei habe er ein bisschen Türkisch gelernt, Englisch, Arabisch. „Mein Leben in Istanbul war gut, aber ich war illegal", sagt Mustafa. „Und ich will doch irgendwann mal studieren, richtig arbeiten, heiraten." Also machte er sich auf den Weg nach Serbien. Hier ruht er sich jetzt aus, übersetzt ein bisschen für die Neuankömmlinge im Info Park. In den nächsten Tagen will auch Mustafa zum „Spiel", an die Grenze, und dann weiter nach Deutschland.
Bald könnte er froh sein, es überhaupt nach Serbien geschafft zu habenMustafa fragt: „Wie ist es in Deutschland?" Es ist keine ganz einfache Frage - Deutschland, wo man Flüchtlinge einerseits freundlich aufnimmt, sie andererseits über Marktplätze jagt? Vielleicht könnte man sagen, dass es insgesamt ganz in Ordnung ist. Mustafa sieht enttäuscht aus. Soll er doch besser in Serbien bleiben, wo er jetzt sogar eine Freundin hat?
Bald könnte er froh sein, es überhaupt nach Serbien geschafft zu haben. Im September wurde öffentlich, dass Serbien ein Abkommen mit der EU schließt. Frontex soll nun auch die Grenzen von Serbien und den anderen Staaten des ehemaligen Jugoslawien überwachen, um die Balkanroute endgültig zu schließen. Details sind noch nicht bekannt. Flüchtlinge stranden dann vielleicht schon in Mazedonien und Bulgarien. Oder zahlen den Schleppern eben noch mehr Geld. Schlupflöcher wird es immer geben.
Die Jungen im Info Park verändern den Kontinent, jeder Einzelne von ihnenSerbien ist ein armes Land, ein Transitland, in dem nun immer mehr Flüchtlinge bleiben und Asylanträge stellen werden. Weil sie hier, wenn sie auf Menschen wie Irina Vari treffen, ganz nett behandelt werden. Und nicht verprügelt, wie an der Grenze nach Ungarn oder Kroatien. Die Frage ist, wie lange noch. Serbien will EU-Mitglied werden. Das Abkommen mit Frontex ist vielleicht der erste Schritt, die europäische Abschottungspolitik auch in Serbien einzuführen.
Die Jungen im Info Park sind zwölf, sechzehn, achtzehn Jahre alt, sie sind klein, unbedeutend eigentlich. Und trotzdem verändern sie einen Kontinent. Jeder Einzelne von ihnen. Jede Nacht, wenn das Spiel wieder von vorne beginnt.
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