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Türkei: Ausgeliefert

Es gibt ihn noch, den kritischen Journalismus in der Türkei. Er kommt aus einem kleinen Büro, unweit vom bekannten Taksim-Platz. In einer Nebenstraße, ein paar Treppen hoch, öffnet Utku Zırığ telefonierend die Tür. Der Mittdreißiger setzt sich zwischen die weißen Wände an den Tisch, zündet sich eine Zigarette an und schaut auf seinen Laptop. Im Nebenzimmer sind noch mehr weiße Wände, in der Mitte ein Tisch, ansonsten Leere. Hier nimmt Zırığ mit seiner einzigen Kollegin Beiträge für Facebook und Twitter auf: Willkommen im improvisierten TV-Studio von WeBiz.

WeBiz ist Social-Media-TV und eine Antwort auf die Repressionen gegen Journalisten in der Türkei. Jeden Tag lädt Zırığ mit seiner Kollegin Meldungen bei Twitter hoch. Außerdem produzieren sie zweiminütige Audiobeiträge mit den Nachrichten des Tages. Und mehrmals wöchentlich treffen sich im improvisierten TV-Studio Politiker, Aktivisten und Journalisten zu Livegesprächen. 3.000 Menschen folgen WeBiz auf Facebook, fast 6.000 auf Twitter.

Zırığ macht auch bei der Plattform HaberSizSiniz mit, was gleich mehrere Bedeutungen hat: "Ihr seid uninformiert", aber auch "Die Nachrichten seid ihr!" Das Logo zeigt einen Bildschirm in Ketten. Dutzende Journalisten und Aktivisten der Plattform übertragen live auf Periscope, eine Podiumsdiskussion mit Politikern der prokurdischen HDP sahen fast eine Million Menschen. "Wir sind Kämpfer der Fakten in postfaktischen Zeiten", beschreibt Zırığ seine Mission. Sowohl HaberSizSiniz als auch WeBiz gibt es erst seit dem Herbst 2016 und doch erreichen diese neuen Formate regelmäßig Zehntausende Menschen. Sie ergänzen einige regierungskritische Nachrichtenseiten im Internet, die schon seit wenigen Jahren anonym oder aus dem Exil über die türkische Politik berichten und sich der Zensur entziehen.

146 Journalisten wurden festgesetzt

Dieses neue Social-Media-TV gibt es, weil es die alten Sender nicht mehr gibt. Im September steht Utku Zırığ gerade am Sprecherpult seines Nachrichtensenders IMC, als die Polizei in die Liveübertragung platzt und den Stecker zieht. Der Vorwurf, wie so häufig nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch am 15. Juli 2016: Terrorpropaganda. "Kurz habe ich noch überlegt, wie wir jetzt die Sendung beenden. Dann wurde mir schnell klar: Ey, du bist arbeitslos", schildert Zırığ seine damaligen Gedanken.

Zeitgleich schloss die Regierung 20 weitere TV-Stationen, darunter einen kurdischen Kinderkanal mit Biene-Maja-Filmen. Es braucht derzeit nicht viel, um für die AKP und Erdoğan als Terrorist zu gelten. Nach Angaben der Plattform P24 wurden seit dem Putschversuch in der Türkei über 190 Medienanstalten geschlossen. 146 Journalisten sitzen im Polizeigewahrsam oder im Gefängnis, mehr als irgendwo sonst auf der Welt.

Auch Aydın Engin traf es kürzlich. Gemeinsam mit elf anderen Redakteuren der renommierten Zeitung Cumhuriyet wurde der 75-Jährige Ende Oktober inhaftiert, in seiner langen Karriere bereits zum achten Mal. Aus Altersgründen kam er nach fünf Tagen vollständiger Isolation frei. "Seitdem komme ich gar nicht mehr zum Schreiben, weil ich jeden Tag Solidaritätsbesuche erhalte", beklagt sich Aydın Engin mit einem ironischen Grinsen. Weil unter anderem der bisherige Chefredakteur weiterhin in Haft ist, leitet Engin nun die Redaktion.

"Die Regierung wirft uns vor, wir würden Propaganda sowohl für die putschende Gülen-Bewegung als auch für die kurdische PKK machen", erläutert Engin. Im Gespräch mit dem Staatsanwalt kurz vor seiner Freilassung konnte es sich Engin nicht verkneifen, diesen Vorwurf ins Lächerliche zu kehren: "Ich habe den Staatsanwalt gefragt, was ein Oxymoron ist. Er wusste es nicht, wurde aber neugierig. Ich erklärte es ihm: ein nicht schwimmender Fisch, ein eckiger Kreis, heißes Eis. Oder eben: Propagandist sein für PKK und Gülen gleichzeitig. Beide Organisationen hassen sich aufs Blut. Der Vorwurf, wir würden für beide arbeiten, ist doch absurd!"

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