Um zu erahnen, wie vernarrt Sean Huffman in seinen Sport, die Mixed Martial Arts, ist, muss man sich lediglich seinen Kampfrekord der letzten vier Jahre anschauen. Sechzehn Kämpfe hat Huffman in dieser Zeit verloren. In Folge. In der wichtigsten Mixed-Martial-Arts-Liga, der Ultimate Fighting Championship, kurz UFC, gibt es sehr wenige Menschen, die mehr als zwei Mal pro Jahr kämpfen. Und wenn sie am Stück verlieren, sieht man sie nicht wieder auf dieser großen Bühne.
Huffman, trotz seiner Muskeln ein liebenswert aussehender Kämpfer mit verbeultem Gesicht, hat es nie bis in die UFC geschafft. Aber immer, wenn er ein Angebot zu kämpfen bekommt, sagt er zu. Ist das Verzweiflung? Für die paar hundert Dollar die eigene Gesundheit zu riskieren in ranzigen Turnhallen und Kellern des Mittleren Westens, weit fernab des Ruhms? Oder handelt es sich um eine derart ernsthafte Liebe, dass dahinter sogar der Stolz und die Sorge verschwinden können?
Kerry Howley, eine 1981 geborene studierte Philosophin, hat in ihrem Buch Geworfen dem boomenden Kampfsport und dem erfolglosen, real existierenden Kämpfer Sean Huffman 330 Seiten gewidmet. Aber auch nach der Lektüre bleibt die Unsicherheit. Die Wahrheit ist wohl, dass man es bei Huffman weder mit dem einen Extrem noch mit dem anderen zu tun hat, weder mit Verzweiflung noch mit Liebe. Glücklicherweise werden in Geworfen nicht immerzu die altbekannten Klischees über den "Extremismus" des "Lebens am Abgrund" oder über "Schweiß und Tränen" bemüht. Huffman ist eben kein stumpfer Hinterwäldler, bei dem ein gewalttätiger Sport mit einem gewalttätigen Alltag zu einem eindimensionalen Gesamtbild der Brutalität verschmilzt.
Geschärftes BewusstseinBeworben wird Geworfen als Roman. Tatsächlich ist das Buch eine Mischung aus Reportage und Fiktion. Die Kämpfe, die präzise und ohne zu große Manierismen beschrieben werden, sind im Internet zu finden. Die eigentliche Handlung ist schnell erzählt: Howley verirrt sich während einer öden philosophischen Konferenz über die Phänomenologie Husserls auf eine kleine MMA-Veranstaltung. Schon die ersten Eindrücke überwältigen sie.
Euphorisiert spricht die Philosophin einen der Kämpfer an, eben jenen Sean Huffman. Ihn und einen weiteren Kämpfer, Eric "New Breed" Koch, wird Howley ab Sommer 2010 etwa zwei Jahre lang begleiten. Eric ist der sehr viel Talentiertere, er schafft in dieser Zeit den Aufstieg in die UFC. Ein Titelkampf gegen den über eine Dekade dominierenden José Aldo wird zu einer Art Fluchtpunkt des Erzählens. Aber auch wenn das Kämpfen den Schlaf- und Essensrhythmus der beiden Männer strukturiert, ihr Leben wird dennoch nicht komplett davon überformt. Vielmehr ist der Kampf ein Spiel, das die beiden beherrschen. Ernst wird es im Alltag.
Howley will vor allem eines: die Ekstase wiedererleben, die sie bei ihrem ersten Besuch eines Mixed-Martial-Arts-Kampfes hatte. Ziel ist das geschärfte Fühlen, Erleben, Beschreiben, Verstehen. Howley selbst bezeichnet ihren Text als "phänomenologische Studie". Im Sinne Husserls würde das bedeuten, die Erkenntnis von den zu beobachtenden Phänomenen selbst zu erlangen, also zu vermeiden, universalistische oder leidlich subjektive Kategorien den Phänomenen überzustülpen.
Echte TränenUnd doch geht es in Geworfen immer wieder um Howley selbst, um ihr Schreiben, um die Fremdheit, die sie empfindet in dem Graduate-Programm, in dem sie an ihrer Doktorarbeit schreibt. In ihrem Kopf gehört beides zusammen: ihre Philosophie und der Kampfsport. "Von diesem Moment an war das einzige phänomenologische Projekt, für das ich noch Interesse aufzubringen vermochte, der Versuch, jenen Daseinszustand einzufangen und zu beschreiben, in den mich ein gewisser Sean Huffman versetzt hatte." Die anderen machen etwas, und das macht etwas mit ihr.
Aber so stimmt es noch nicht ganz. Denn von Kerry Howley selbst ist in Geworfen keine Rede. Stattdessen installiert Howley, wie sie nach etwa einem Viertel des Buches offenbart, eine Erzählerin namens Kit. Die will natürlich nicht identisch sein mit Howley, weist jedoch deutliche Parallelen in Sachen Alter, Ausbildung und Lebensorten auf. Diese Einführung von Kit ist ein Knackpunkt des Buches. Denn sie führt nicht nur zu der etwas ermüdenden x-ten Fetischisierung der Metaebenen, sondern auch zu einer absurden Situation: Einerseits hebt Howley explizit hervor, dass jedes Erzählen, auch jenes, welches sich "Reportage" oder "Sachbuch" oder "Essay" nennt, keine Repräsentation, zumindest keine perfekte, sein kann. Denn jedes Erzählen wählt aus, gewichtet, lässt weg, verschärft. Easy. Andererseits reklamiert Kit in dem Kapitel, in dem sie zum ersten Mal in Erscheinung tritt, Authentizität: "Echte Tränen flossen aus den Augen", als sie Sean Huffmann stürzen sieht. So nah und doch so fern.
Die zusammenkrachenden Körper
Nach Monaten, in denen Kit mit Sean Tausende von Stunden verbracht hat, dieser sie auch in sein unsortiertes Privatleben hineinlässt, steht für ihn eine große Neuigkeit bevor: Er wird Vater. Oder zumindest glaubt er das. Mit der Mutter verbindet ihn längst nichts mehr. Dennoch verändert Sean sich. Er wird verlässlicher, gibt sich nicht mehr seinen wechselnden Stimmungen hin. Kit geht diese Verwandlung gegen den Strich. Die Reflexion darüber, welche Auswirkungen Seans Veränderungen auf ihr Schreiben haben, kommen nicht recht vom Fleck. Allenfalls erreicht Kit die Einsicht, dass jedes Schreiben parasitär über seine Gegenstände herfällt. Dabei ist es nicht allzu schwer, sich ein anderes Schreiben vorzustellen: Einfühlend oder auch nur "phänomenologisch" – eben von den Phänomenen selbst ausgehend. Dass Kits Kaltschnäuzigkeit unangenehm nachwirkt, hat nicht nur ganz simple ethische Gründe. Es ist ernüchternd, wenn das Nachdenken über das eigene Schreiben prominent gemacht wird, dann aber so leicht versandet.
Kaltblütiges Schreiben
Kit selbst bleibt dem Leser völlig fremd. Auch eine Beziehung zwischen ihr und den Kämpfern, die doch entstanden sein müsste nach einer so langen gemeinsamen Zeit, scheint es nicht zu geben. Und überhaupt, wie muss man sich das vorstellen: eine junge, gebildete Philosophin unter lauter professionellen, fast nur männlichen Kämpfern? Was ändert sich mit einer Frau in diesem vordergründig hypermaskulinen Umfeld? Damit Geworfen neben seiner vielschichtigen Reflexion des Kämpfens auch glaubwürdiger würde, müsste diese Konstellation überzeugender geschildert sein, genauso wie die Wirkungen, die von ihr ausgehen.
Zu einer solchen Glaubwürdigkeit trägt etwa an anderer Stelle bei, dass Sean nicht permanent hinterfragt wird, sondern einfach als ein spaßversessener, menschenfreundliche Optimist dargestellt wird. Das verdient den Namen "phänomenologisch" sicherlich. Aber diese Unvoreingenommenheit zerschellt an späteren Sätzen: "(Sean) war nur eine Anomalie in einem Datensatz namens Eric."
Kit will den Ausnahmezustand erleben. Sie begafft da eine Welt in der Welt, in der manche Menschen zu Kämpfern werden. Der eigentliche Antrieb ist die Sensationsgier. Ihre Selbstumkreisungen sind brutaler als das, was im Käfig passiert. Denn Howleys Schreiben ist vor allem eines: kaltblütig. Keine Sympathie, keine Nähe. Nur die Welt und die darin zusammenkrachenden Körper als Anlass.
erschienen bei ZEIT ONLINE, 25.7.2016.
Zum Original