Georgien ist Gastland der 70. Frankfurter Buchmesse. Es herrscht Aufbruchsstimmung. Auch unter jungen Georgiern, wie ein Streifzug durch Tbilissi zeigt.
Als die letzten Akkorde der Ungarischen Rhapsodie verklungen sind und Giorgi Grdzelidze sich vom Flügel erhebt, seine Brille zurechtrückt und zwei flüchtige Verbeugungen macht, geht das Hämmern wieder los. Im frisch gestrichenen, noch stuhllosen Übungsraum der Paliaschvili-Musikschule in Tbilissi werden die Fußleisten verlegt, und der barfüßige Handwerker lässt sich nur ungern von der Arbeit abbringen. Der Raum soll eine Schönheitskur erhalten, endlich, den Rest des Backsteinbaus hat die Sowjet-Zeit noch fest im Griff: die Noten mit kyrillischer Schrift, das abgelaufene Parkett, der bröckelnde Putz im Treppenaufgang.
Das Gebäude ist zur permanenten Zwischenlösung für 700 musisch hochbegabte Jugendliche und ihre 200 Dozenten geworden. Ein Erdbeben hatte die Talentschmiede 2002 zum Umzug in diese ehemalige Jungenschule gezwungen. Bald, ja bald soll es in ein großes Haus mit richtigem Konzertsaal gehen. So heißt es seit Jahren. Keiner kann sagen, wann. Inzwischen fließen wieder Staatsmittel in die Schule. Trotzdem fehlt manchmal das Geld zum Heizen. Der Flügel im Konzertzimmer ist eine Spende aus Deutschland.
Man hat sich eingerichtet im Provisorium. "Wir gehen nach Konzerten gemeinsam essen", die Schule sei eine große Familie, sagt Giorgi und verschränkt die schmalen Arme vor der Brust. "Brooklyn" steht in weißen Lettern auf seinem T-Shirt. Dazu Skaterschuhe und löchrige Jeans. Mehr Berliner Hip-Hopper als kaukasisches Klaviertalent, jedenfalls äußerlich. Er ist 16, übt viele Stunden am Tag. Es werde geübt, solange geübt werden müsse, erzählt er, anders als im Westen, wo die Uhr den Takt vorgebe. So wie zuletzt bei einem Meisterkurs in Bayern, sagt Giorgi.
Es gibt einen Gründungsmythos, der diese Musikleidenschaft der Georgier erklärt: Laut Legende teilte Gott bei der Erschaffung der Welt jedem Volk sein Fleckchen Erde zu - die Georgier erschienen aber erst nach der Vergabe, dafür singend und tanzend. Gott war nachsichtig und verzichtete ihnen zugunsten auf sein eigenes Stückchen Land.
Eingekeilt zwischen den hohen Bergen des Kaukasus und dem Schwarzen Meer, ist mit seinen 3,7 Millionen Bewohnern so groß wie Bayern. Das Land ist, natürlich, der Geburtsort Stalins, und seit 2017 eine parlamentarische Demokratie. Alles aber, was die Identität der Georgier fundamental bestimmt, ist viel älter: Das Christentum. Der Weinbau. Die Legende vom Goldenen Vlies. Der mehrstimmige Gesang. Sobald ein georgisches Kind aus dem Mutterbauch komme, fange es an zu singen, heißt es. In den Kindergärten wird viel musiziert, an den Esstischen gesungen.
Auch an der Musikschule stimmen Lehrer und Schüler jetzt ein Lied an, bevor es über aufgerissenes Kopfsteinpflaster den Hang hinabgeht. Vorbei an faltigen Altbauten, in deren Souterrains Frauen in Schürzen duftende Brote aus Tonöfen ziehen. Dann über die Champs-Élysées von , den Rustaweli Prospekt: Laufsteg der Stadt und nach dem Nationaldichter Schota Rustaweli benannt, dessen mittelalterliches Heldenepos Der Recke im Tigerfell zum Unesco-Kulturerbe zählt. Jedes Schulkind kennt sein Werk. In den Straßen verschlägt der Smog einem den Atem.
Vor Luxusboutiquen und in den Unterführungen kauern alte Frauen neben Kartonkisten. Darauf Kollektionen aus Taschentüchern, Söckchen und Zigaretten. Die Abgehängten. Auch das ist Tbilissi. Trotz Reformbemühungen lebt ein Drittel der Georgier unterhalb der Armutsgrenze. Die mehr als 250.000 Binnenvertriebenen infolge des Abchasien- und Südossetien-Konflikts mit Russland verschärfen das Problem. Die Arbeitslosenquote lag 2017 bei 12 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit lag mit 27 Prozent weitaus höher.
Einen Steinwurf vom Freiheitsplatz entfernt, wartet Davit Gabunia im Royal District Theatre. Gabunia, vor 36 Jahren im noch sowjetischen Georgien geboren, ist Schriftsteller, Dramaturg und Übersetzer. Seit zehn Jahren leitet er die literarische Abteilung des Theaters. Mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe hat er ein Stück über die stalinistische Verfolgung georgischer Schriftsteller geschrieben. Tiger und Löwe soll am nächsten Tag Premiere feiern. Gabunias erster Roman wurde gerade auf Deutsch veröffentlicht, Farben der Nacht.
Während auf der Bühne letzte Proben mit deutschen Schauspielern stattfinden, sitzt Gabunia an einem Tisch im Untergeschoss. Durch das Fenster zum Hof dringt Kindergeschrei. Wenn man ihn fragt, wie er wurde, was er ist, erzählt er von den Neunzigern: Familienleben in der Schwarzmeer-Stadt Poti. Ein Bruder, eine Schwester. Die Mutter, ausgebildete Deutschlehrerin, ist Hausfrau, der Vater Ernährer. Es sind die Schewardnadse-Jahre. Bürgerkriege, Korruption, Kriminalität und wirtschaftlicher Kollaps. Für die Familie bedeutete das: kein Strom, keine Heizung, kaum Essen.
"Du bist gefangen in der eigenen Sprache"
Der Mangel säte in dem introvertierten Jungen die Liebe zum Wort. Es gab kein Fernsehen, aber eine kleine Bibliothek in der Nachbarschaft. "Ich habe gelesen, gelesen, gelesen!" Viel sozialistischen Ramsch, aber auch Stendhal, Balzac, Dickens. "So haben sich all diese Dinge in den hinteren Ecken meines Gehirn angesammelt, die mich heute beeinflussen", sagt Gabunia. Mit 17 zieht er nach Tbilissi, studiert Literaturwissenschaften, erlebt als Austauschstudent in Stockholm einen Kulturschock, kehrt zurück und arbeitet als Übersetzer: Shakespeare, Strindberg, Harry Potter.
Spricht
Gabunia über die Bedeutung seiner Muttersprache, leuchten seine Augen.
Ein Segen sei sie, voller Reichtum und Geschichte. Dazu die
Alphabetschrift Mchedruli mit den 33 Buchstaben, die keine Klein- und
Großbuchstaben kennt. Aber das Georgische sei auch ein Fluch, nur knapp
vier Millionen Menschen sprechen es. "Du bist gefangen in der eigenen
Sprache." Übersetzungen sind ein Ausweg. Gerade ist Georgien Gastland
auf der Frankfurter Buchmesse,
70 Autoren reisen nach Frankfurt, fast 200 georgische Bücher sind
zuletzt übersetzt worden. Ein Weg aus der Isolation, wie Fremdsprachen
überhaupt. Englisch lernen die Kinder hier ab der ersten Klasse. Neben
Russisch wird auch Deutsch oder Französisch in der Grundschule
angeboten.
Der größte Reichtum
Georgiens seien weder Öl noch Gold, sondern der Intellekt und die
Bildung seiner Menschen, sagte Ex-Präsident Saakaschwili zum Amtsantritt
2004. Ihm wird zugutegehalten, dass er neben der erfolgreichen
Bekämpfung der Korruption auch die Hochschulen für junge Lehrkräfte
geöffnet hat, bevor er seine zweite Amtszeit zum Machtausbau
missbrauchte.
Seit 2012 stellt die
Oppositionspartei eines Milliardärs die Regierung. Ihr Bildungsminister
will den Schulunterricht digitaler gestalten, nach finnischem Vorbild
einzelne Fächer aufheben und themenorientierter arbeiten. Das
Hochschulsystem soll europäisiert werden. Schon heute hat Georgien mit
28 Studenten auf je tausend Einwohner mehr Studierende als Deutschland.
Der Aufbau einer dualen Berufsbildung soll den Fachkräftemangel beheben.
Trotz hoher Jugendarbeitslosigkeit fehlt es an Personal in Bereichen
wie Bau oder Tourismus. Die Reisebranche boomt: Die Zahl der
ausländischen Gäste stieg allein 2017 um 20 Prozent.
"Das
Wichtigste ist, dass die Regierung die Lehrer besser bezahlen will",
sagt Barbara von Münchhausen. Seit gut einem Jahr leitet sie das
Goethe-Institut in Tbilissi. Das Treffen findet in ihrem Büro statt, im
Obergeschoss eines weitläufigen Altbaus. Lehrer, sagt von Münchhausen,
erhielten als Berufsanfänger 300 Lari im Monat, etwa 100 Euro. "Davon
kann man auch hier nicht leben." Laut Ministerium sollen Lehrer bis 2022
umgerechnet 500 Euro verdienen.
"Mal sehen", sagt von
Münchhausen. Euphorisch klingt das nicht. Nach Stationen wie Almaty und
Minsk hat sie zu viel Erfahrung mit postsowjetischen Staaten. Aber dann
bestätigt sie, was viele Begegnungen in diesen Tagen zeigen: Sie spüre
unter jungen Georgiern eine enorme kreative Energie. Nach dem Ende der
Sowjet-Zeit und Korruption seien die Weichen zur freien Entfaltung
gestellt.
An
der breiten Fensterfront lehnt Manana Marsagishvili und nickt.
Schwarzer Bob, schwarzes Top, markante Nase. Die 32-Jährige ist
Programmkoordinatorin am Goethe-Institut. In Metropolen wie Berlin, wo
es seit Jahren viele junge Menschen hinziehe, wirke vieles schon wieder
gesetzt, sagt sie. Obwohl man – wie in der Bildungspolitik – Georgiens
Drang gen Westen spüre, gebe es in der jungen Generation auch eine
Rückbesinnung auf die Heimat. "Weil sich hier so viel verändert, sie
wollen jetzt hier mitgestalten."
Wovon träumt Georgiens Nachwuchs? Noch ein Treffen mit Giorgi, dem jungen Pianisten. Er sitzt im Innenhof der Fabrika, einer ehemaligen Textilfabrik, heute moderne Kreativzelle für Grafik-Designer und Elektronik-Musiker, ein Szenetreff mit Hostel, Cafés und Pflanzenladen. Giorgis T-Shirt ziert ein Schriftzug in Flammen, er raucht. Beim Eiskaffee spricht Giorgi vom Ruhm. Von einem Buch, das er schreiben will. Von Konzerten, die er geben möchte. Von Europa, Oslo, London. Von einer Rückkehr in die Heimat spricht er nicht.
Original hier: https://www.zeit.de/2018/42/georgien-tbilissi-frankfurter-buchmesse-jugendliche-aufbruch/komplettans...
Oder hier: http://www.inwordswetrust.de/textproben
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