Nelli Tügel

Journalistin, Redakteurin, Berlin

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Das Hochstapler-Papier

Wie werden die nächsten vier Jahre unter der neuen rot-grün-gelben Bundesregierung aussehen? Der Koalitionsvertrag gibt darüber nur begrenzt Auskunft und das, was drinsteht, wenig Anlass zur Freude.

Von Nelli Tügel

Der letzte Woche in Berlin vorgestellte Koalitionsvertrag der künftigen Ampel-Regierung aus Sozialdemokrat:innen, Grünen und Liberalen stellt in mehrfacher Hinsicht ein Novum dar: Erstmals wird ein rot-grün-gelbes Bündnis das Land regieren. Neu ist auch das grosse öffentliche, vor allem mediale, Interesse am Koalitionsvertrag. Im Kontrast dazu stehen die Erwartungen der Bevölkerung. Umfragen ergaben in den vergangenen Monaten mehrfach, dass auf die Frage "Welcher Partei trauen Sie am ehesten zu, mit den Problemen in Deutschland fertigzuwerden?" weit über fünfzig Prozent antworten: keiner.

Nicht nur deshalb ist die Aufregung um den Koalitionsvertrag bemerkenswert, sondern auch, weil er nicht verbindlich ist. Die Bezeichnung "Vertrag" ist irreführend: Es handelt sich lediglich um schriftlich fixierte Absichtserklärungen. Aus diesen ist das Prägende einer Legislatur nicht unbedingt abzulesen. Die folgenreichsten Eingriffe in den Sozialstaat der vergangenen Jahrzehnte etwa, die Agenda 2010, kündigten SPD und Grüne im 1998 geschlossenen Koalitionsvertrag ebenso wenig an, wie sich 2009 vorhersehen liess, dass Union und FDP wenig später Griechenland ein Spardiktat auferlegen würden - Papier ist geduldiger als die Geschichte.

Hartz IV heisst jetzt "Bürgergeld"

Die Präsentation des diesjährigen "Vertrags" fiel dessen ungeachtet hochstaplerisch aus: Die Koalitionär:innen gaben ihrem Text den Titel "Mehr Fortschritt wagen" - ein Rekurs auf Willy Brandt, der als erster SPD-Kanzler in seiner berühmten Regierungserklärung 1969 gesagt hatte: "Wir wollen mehr Demokratie wagen." Gar für einen Hauch von Französischer Revolution sorgt der Untertitel: "Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit".

Zwar würden einige der angekündigten Vorhaben für Betroffene deutliche Verbesserungen mit sich bringen, das gilt etwa für die Abschaffung des Transsexuellengesetzes, die Reform des Familienrechts zugunsten nichttraditioneller Modelle und die Abschaffung des Paragrafen 219a, der öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche durch Ärzt:innen kriminalisiert (der Paragraf 218, der Abbrüche illegalisiert, auch wenn sie durch eine Ergänzung straffrei sind, bleibt vorerst). Die anklingenden Bezüge zu Revolution oder Brandt wirken dennoch grössenwahnsinnig. Erstens ist völlig unklar, was tatsächlich umgesetzt werden wird. Zweitens werden die Vorhaben dem, was aus wissenschaftlicher wie linker Sicht beispielsweise im Bereich der Klima-, Asyl- oder Sozialpolitik nötig ist, nicht gerecht. In einigen Bereichen drohen zudem Verschlechterungen.

So bei der Arbeitszeit: Hier will die Ampel "Experimentierräume" schaffen und ermöglichen, dass mit Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen die gesetzlich festgelegte tägliche Arbeitszeit ausgehebelt und über das bisher erlaubte Mass verlängert wird. Gerade in Betrieben mit schwachen oder managementfreundlichen Beschäftigtenvertretungen könnte sich das als folgenschwer erweisen.

Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro, das zentrale Wahlversprechen der SPD, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als schwach. Sie ist, anders als noch im Sondierungspapier, nicht mehr auf 2022 terminiert; wann sie erfolgen soll, ist also offen. Vor allem aber hat die Ampel mit der parallel vorgesehenen Ausweitung der Minijobs ein Schlupfloch eingebaut, durch das Unternehmen die Effekte der Mindestlohnerhöhung umgehen können.

Die Pläne zur Zukunft von Hartz IV müssen als klarer Bruch der Wahlversprechen durch SPD und Grüne bezeichnet werden, die das repressive und demütigende System, das sie einst selbst eingeführt haben, angeblich überwinden wollten. Davon ist nicht viel übrig geblieben. Hartz IV soll künftig "Bürgergeld" heissen, doch an "Mitwirkungspflichten" und Sanktionen will die Ampel im Grundsatz festhalten. Einige angekündigte Verbesserungen - Kindergrundsicherung, höhere Zuverdienstgrenzen, die Erleichterung bei der Übernahme der Wohnkosten - stehen der nur geringen Erhöhung der Regelsätze gegenüber. Hartz IV aber sei erst überwunden, "wenn die Sanktionen abgeschafft und die Regelsätze so weit erhöht sind, dass die Menschen über den Monat kommen", kommentierte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Und die Schuldenbremse?

Besonderes Augenmerk lag bei der Koalitionsvertragsexegese - natürlich - auf den Klimaplänen. Der grüne Vizekanzler in spe, Robert Habeck, sagte, man sei nun auf dem "1,5-Grad-Pfad". Als unzutreffend bezeichnete das kurz darauf Fridays for Future Deutschland. Der Koalitionsvertrag reiche "für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze nicht aus". So solle zwar der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt werden und der Kohleausstieg bis 2030 erfolgt sein (laut Koalitionstext: idealerweise). Anderes aber komme viel zu spät, etwa der für 2045 geplante Gasausstieg, oder fehle gänzlich, wie eine Einschränkung des Flugverkehrs.

Wenig überraschend lautet der wesentliche Klimaschutz-Leitsatz der neuen Regierung, "ökonomische Entwicklung und ökologische Verantwortung" in Einklang bringen zu wollen. Dass so das Klima kaum rechtzeitig zu retten ist, ist die eine Sache. Dass die Regierung auch für den Umbau hin zu einem "grünen" Kapitalismus Geld in die Hand wird nehmen müssen, eine weitere. Den Widerspruch, dass der im Koalitionsvertrag versprochene "Aufbruch" ebenso wie "Nachhaltigkeit" oder "Innovation" Geld kostet, aber zugleich höhere Steuern für Reiche oder Unternehmen nicht geplant sind und die im Zuge der Finanzkrise 2009 installierte Schuldenbremse erhalten bleiben soll, umgehen die Koalitionär:innen damit, dass beispielsweise die Förderbank KfW ermächtigt wird, mehr Kredite zu vergeben, und staatliche Gesellschaften, etwa die Deutsche Bahn, künftig mehr Kredite aufnehmen dürfen.

Hier kommt ausserdem der Posten des Bundesfinanzministers ins Spiel: Wie von vielen befürchtet, wird Christian Lindner, FDP-Chef und Verfechter einer strengen Haushaltspolitik, das Amt übernehmen. Das wurde auch ausserhalb Deutschlands in der EU mit Argwohn registriert: Vor allem die Staaten Südeuropas haben allen Grund zur Sorge.

Kein Umdenken in der Asylpolitik

Grünen und SPD bietet die Regierungsbeteiligung der FDP indes die Chance, gegenüber linken Kritiker:innen, auch in den eigenen Reihen, auf die Liberalen verweisen zu können.

Einen Vorgeschmack darauf gaben schon die Reaktionen auf die Kapitel zur Asyl- und Migrationspolitik: Viele schrieben die Aufnahme einer "Rückführungsoffensive" in den Text der FDP und alle in Aussicht gestellten Verbesserungen - wie schnellere Einbürgerungen, die Abschaffung der 2018 eingeführten Ankerzentren und die Erweiterung des Familiennachzugs - den Grünen zu. Dabei verweist auch das grüne Spitzenpersonal regelmässig auf die vermeintliche Notwendigkeit von Abschiebungen, und bei der geplanten Erleichterung ökonomisch "nützlicher" Einwanderung sind die Schnittmengen zwischen Grünen, Liberalen und Sozialdemokrat:innen ohnehin gross. Bezüglich der EU-Aussengrenzen formuliert die Ampel zwar das Ziel, illegale Zurückweisungen zu beenden und "Menschen nicht ertrinken zu lassen". Die dafür benannten Mittel - die Weiterentwicklung der EU-Grenzschutzagentur Frontex oder "Migrationsabkommen mit Drittstaaten" - liessen jedoch insgesamt "kein Umdenken" erkennen, sagt Alina Lyapina, Aktivistin der Bewegung Seebrücke, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten einsetzt. "Wenn die neue Ampel-Regierung das Leid an den EU-Aussengrenzen wirklich beenden will", so Lyapina, müsse sie "sofort handeln und Menschen aus dem polnisch-belarusischen Grenzgebiet aufnehmen".

Am 6. Dezember soll Olaf Scholz zum Kanzler gewählt werden. Der Ampel-Koalition steht eine Opposition gegenüber, die so rechts ist wie lange nicht mehr - die stärkste Oppositionspartei im Parlament, die CDU, wird möglicherweise bald vom Ultra-Neoliberalen Friedrich Merz geführt, hinzu kommen CSU und AfD. Die Linkspartei, wegen eines katastrophalen Wahlergebnisses von nur 4,9 Prozent fast aus dem Parlament geflogen, steht arg gerupft da. Um festzustellen, dass die Aussichten für linken Druck auf die Regierung, zumindest aus dem Parlament, nicht gut sind, braucht es keinerlei hellseherische Fähigkeiten.

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