Nelli Tügel

Journalistin, Redakteurin, Berlin

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Artikel

Die Lilawesten

Steigende Mieten machen vielen Menschen zu schaffen. Obwohl der Berliner Mietendeckel gekippt wurde, geht der Kampf um die Vergesellschaftung von Wohnraum weiter. Von Nelli Tügel

„Wir legen uns mit richtig mächtigen Konzernen an. Dafür brauchen wir nicht nur Unterschriften, sondern Masse“, ruft eine Frau, die unter der Überführung am Berliner Nachtigalplatz steht. Durchgedrückter Rücken, Pferdeschwanz, große Creolen-Ohrringe, eine lila Weste über der Jacke. Es ist Nachmittag, Anfang Mai – und saukalt. „Eine Feuertonne wär jetzt gut“, sagt die Frau, reibt sich die Hände und lacht aufmunternd in die Runde. Um sie herum stehen etwa zwanzig Menschen im Kreis. Alle tragen eine lila Weste. Klemmbretter und Masken werden verteilt, Absprachen getroffen. Der Himmel ist grau, doch in der Luft liegen Vorfreude und Zuversicht.

Der Nachtigalplatz ist Teil der Friedrich-Ebert-Siedlung im Berliner Wedding – ein Arbeiter_innenviertel mit viergeschossigen, ­schmucklosen Häusern in Zeilenbauweise. Sie gehören zwei großen Immobilienkonzernen: der Deutschen Wohnen, die 1998 von der Deutschen Bank gegründet wurde, sowie der Vonovia. Die Aktivist_innen mit den lila Westen wiederum gehören zur Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Sie wollen hier an Wohnungstüren klingeln und Unterschriften sammeln für ein Volksbegehren, über das die ganze Stadt spricht und dessen Ziel es ist, 250.000 Berliner Wohnungen zu vergesellschaften. Auch die in der Friedrich-Ebert-Siedlung.

Bis Ende Juni müssen 175.000 gültige Unterschriften zusammenkommen, damit über das Volksbegehren im September abgestimmt werden kann. Wenn es eine Mehrheit findet, ist die Stadt in der Pflicht, ein Gesetz auszuarbeiten: Konzerne, denen mehr als 3000 Wohnungen gehören, würden dann unter Anwendung des Artikels 15 des Grundgesetzes enteignet und die Wohnungen in Gemeineigentum überführt. So soll den steigenden Mieten entgegengewirkt werden, die besonders in den Großstädten Millionen Menschen zunehmend Probleme bereiten. Im Zuge der Finanzkrise 2007/2008 wurde Wohnraum zum beliebten Kapitalanlage- und Spekulationsobjekt. Schon vor einigen Jahren begannen in Berlin deshalb Mieter_innen damit, sich zu organisieren. Inzwischen ist daraus eine breite soziale Bewegung geworden.

„Auf euch hab ich schon gewartet“. Ein erster Erfolg dieser Bewegung war das unter ihrem Druck auf den Weg gebrachte Berliner Gesetz zur Deckelung und Absenkung der Mieten. Das Bundesverfassungsgericht erklärte kürzlich allerdings den sogenannten Mietendeckel für nichtig – ein Bundesland besitze für eine solche Maßnahme nicht die Kompetenz. Am Abend des Richterspruchs demonstrierten 20.000 Berliner_innen – entschlossen, den Kampf gegen steigende Mieten und Wohnungsnot nicht aufzugeben. Einige von ihnen trugen die lila Westen der Enteignungskampagne. „Jetzt erst recht!“, war an allen Ecken zu hören: dann halt einen bundesweiten Deckel, dann erst recht Enteignung. Doch das Ende des Mietendeckels ist zunächst ein herber Rückschlag. Jetzt muss wieder mehr vom Lohn für das Wohnen abgedrückt werden; vielen Menschen flattern zudem Nachzahlungsforderungen ins Haus.

Auch den Bewohner_innen der Friedrich-Ebert-Siedlung, wie die Aktivist_innen an jenem kalten Nachmittag im Mai bei ihren Haustür­gesprächen erfahren. In Zweiertrupps schwärmen sie aus. Darunter Nils und Friederike, die zusammen losziehen. Nils studiert und wohnt in direkter Nachbarschaft; Friederike kommt aus einem anderen Berliner Stadtteil und sammelt heute zum ersten Mal mit. Klingeln, warten: „Guten Tag, wir sind von der Initiative ‚Deutsche Wohnen und Co enteignen‘, wir wollen, dass Wohnungen großer Immobilienkonzerne vergesellschaftet werden, damit die Mieten nicht weiter steigen. Haben Sie einen Moment Zeit für uns?“ – so geht es die nächsten zwei Stunden von Tür zu Tür. Die meisten unterschreiben, viele haben die Flugblätter gelesen, die zwei Tage zuvor hier bereits verteilt wurden. „Auf euch hab ich schon gewartet“, sagt ein älterer Mann und greift nach dem Klemmbrett. Einige wollen auch selbst aktiv oder weiter informiert werden.

Dass Mieter_innen nicht nur unterschreiben, sondern sich auch organisieren, ist Nils, Friederike und ihren Mitstreiter_innen besonders wichtig. Denn nach den Unterschriften kommt der Kampf um die Ja-­Stimmen im September. Und wenn das Votum pro Vergesellschaftung ausfällt, wird es dennoch weiteren Druck von unten brauchen, damit die Forderungen wirklich vollumfänglich umgesetzt werden. Die Kampagne läuft zwar gut und bekommt viel Zuspruch. Sie hat allerdings auch starke Gegner: die Immobilienkonzerne und ihre Verbündeten – darunter CDU, FDP, AfD und SPD. An der Basis der SPD, die den Berliner Bürgermeister stellt, unterstützten viele das Volksbegehren, die Parteispitze aber lehnt Enteignungen ab mit dem Argument, dass dadurch kein neuer Wohnraum entstehe. Eine recht windige Argumentation, da Mietenkontrolle beim Wohnungsbestand und Neubau überhaupt nicht aneinanderhängen. Doch um Genauigkeiten geht es längst nicht mehr in der öffentlichen Debatte rund um das Volks­begehren, unter dessen Gegner_innen sich spürbar Panik breitmacht. Sie wissen, dass es um sehr viel geht. Um Profite, aber auch um einen aus ihrer Sicht gefährlichen Präzedenzfall: Der Artikel 15 des Grundgesetzes wurde in Deutschland noch nie angewandt. Er besagt, dass „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“ können. Sollte das in Berlin tatsächlich gelingen, könnten sich nicht nur Mieter_innen in anderen Städten ermutigt fühlen, nachzuziehen. Um das zu verhindern, wird die Immobilien­lobby wohl noch einiges auffahren.

Privatisierungsfolgen. Manche glauben nicht daran, dass dieser Kampf gewonnen werden kann. Ein Mieter in der Friedrich-Ebert-Siedlung erteilt Friederike und Nils eine deutliche Absage. „Der Senat ist schuld“, schimpft er, „der hat die Wohnungen doch verkauft.“ „Genau!“, antwortet Nils. „Und wir wollen das rückgängig machen.“ Aus der Wohnung kommt verbittert zurück: „Ja, und die Wohnungen für teures Geld zurückkaufen, damit die Mieten noch weiter steigen“. Die Tür wird geschlossen, der Schlüssel mit Nachdruck noch zweimal im Schloss umgedreht.

Solche Ablehnung ist bei den Gesprächen an diesem Nachmittag die Ausnahme. Doch der Mieter hat auch einen Punkt: Die Wohnungen im Viertel gehörten früher der städtischen Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft (GSW). Im Jahr 2004 privatisierte der Senat sie für lächerliche Summen – die Vorlage dafür hatte Thilo Sarrazin erarbeitet, seinerzeit Finanzsenator einer rot-­roten Landesregierung aus SPD und PDS (heute Linkspartei). Diese Politik schuf die Grundlage dafür, dass heute Immobilienkonzerne die Mietpreise in die Höhe treiben und obendrein noch ihre Bestände vergammeln lassen können.

Die Akivist_innen von „Deutsche Wohnen und Co enteignen“, wie Nils und Friederike, verschweigen die fatalen politischen Fehler der Vergangenheit keineswegs. Doch sie wollen sich auch nicht der Resignation hingeben. Ihr Argument, dass die Vergesellschaftung von Wohnraum – trotz dann anstehender „Entschädigungen“ der Konzerne – diesen dauerhaft dem Markt entziehe, ist bestechend einfach und überzeugt offenbar viele Menschen: Bereits zur Halbzeit der Sammelphase im April konnten 130.000 Unterschriften übergeben werden, einer aktuellen Umfrage zufolge befürwortet eine Mehrheit von 47 Prozent der Berliner_innen die Enteignungspläne, 43,7 Prozent sind dagegen, der Rest ist noch unentschlossen. Überall in der Stadt sieht man die lila Westen herumschwirren, besonders als ein paar Tage nach dem kalten Mai-Nachmittag in der Friedrich-Ebert-Siedlung doch noch der Frühling nach Berlin kommt. Es dürfte auch ein ziemlich heißer Sommer werden.

Nelli Tügel ist Redakteurin der linken Monatszeitung „analyse & kritik“.

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